Teil 1: Der Vormarsch auf Mülhausen, 08./09. August 1914
Nach dem ersten Vorstoß der Franzosen Richtung Mülhausen Anfang August 1914, wurden auf deutscher Seite diverse Einheiten in Marsch gesetzt. Zunächst fuhren die Truppen mit der Bahn zu den Sammelplätzen um Neubreisach (heute Neuf-Brisach) und Colmar, um dann Richtung Mülhausen zu marschieren. Es war Hochsommer, es herrschte eine unglaubliche Hitze. Für die Truppen, die zum Teil aus neu eingekleideten Reservisten bestand, wurde der Marsch zur Qual.
Über diese Strapazen existieren in den Regimentsgeschichten einige Schilderungen, welche wir nachfolgend auszugsweise wiedergeben werden:
"Am 8. August, nach einer Bahnfahrt von den Garnisonen in Mannheim und Heidelberg, wurde in Riegel und Denzlingen ausgestiegen. Die Quartiere in den umliegenden Dörfern waren nach kurzem Marsch zu erreichen. Beim Marsch in diese Quartiere hörten wir zum ersten Mal Kanonendonner, der aus der Gegend um Mülhausen kam. Wer aber glaubte, dass er sich nach den Anstrengungen der letzten Mobilmachungstage und der nächtlichen Eisenbahnfahrt, bei der an Schlafen nicht zu denken war, in einem behaglichen Quartier ausruhen dürfte, der sah sich arg getäuscht. Der Krieg hatte begonnen.
Nur von wenigen der zuerst eintreffenden Kompanien wurden die ursprünglich bestimmten Quartiere erreicht. Da traf nachmittags um 3 Uhr der Divisionsbefehl ein, der die Versammlung nach vorn in Richtung Alt-Breisach (Ihringen – Wasenweiler) anordnete. Die Hitze war sehr stark, erst um 11:30h abends traf das letzte Bataillon in Wasenweiler ein. Aber auch dann war uns keine Ruhe beschieden. Kaum mochten sich die Bataillone notdürftig eingerichtet haben, als um 2 Uhr morgens stiller Alarm wieder an die Gewehre rief, um den Marsch fortzusetzen.
Inzwischen hatte sich die 28. Division längs der Straße Gottenheim – Ihringen – Alt-Breisach versammelt. Vom Feinde war bekannt geworden, daß er etwa mit einer Division bei Mülhausen, mit einer anderen bei Sennheim (Anm.: heute Cernay) stehe. Noch heute, Sonntag der 9. August, soll dieser Gegner angegriffen werden. Unsere Division soll um 9 Uhr vormittags Hirzfelden (Anm: heute Hirtzfelden) erreichen.
Um 2:45h morgens wurde angetreten. Schon jetzt machten sich trotz aller Kriegsbegeisterung, trotz besten Willens die Anstrengungen der letzten Tage bemerkbar. Das schwere Gepäck mit 150 scharfen Patronen, die neuen, noch nicht ausgetretenen Stiefel waren den Leuten noch ungewohnt; die Ergänzungsmannschaften hatten sich noch nicht einmarschiert. Das I. Bataillon hatte in Ihringen durch den vorgehenden Verpflegungsoffizier praktischerweise einen Ochsen requirieren und schlachten lassen, II. war nach der Bahnfahrt noch nicht zum Essen gekommen, da es auf seine Feldküche wartete, und III. war seit 6 Uhr abends seit dem Ausladen aus der Eisenbahn fast ununterbrochen im Marsch.
Beim Morgengrauen überschritt das Regiment bei Breisach den Rhein. Bald setzte die Hitze mit neuer Kraft ein. Sie verlangsamte den Marsch, so daß wir erst um 9:45h Hirzfelden erreichten. Die zuerst auf 1,5 Stunden geplante Rast wurde deshalb auf 1 Stunde verkürzt. Um 10:45h ging es bei glühender Hitze weiter. In Ensisheim wurden den Soldaten durch die Einwohner in freundlicher Weise reichlich Erquickungen aller Art angeboten. Aber die Marschverluste mehrten sich; auch Hitzschläge ernster Art, sogar solche mit tödlichem Ausgange kamen vor. Die Zahl der Zurückbleibenden steigerte sich zu bedenklicher Höhe. Sollte es weitergehen, so war es unvermeidlich, daß die Tornister abgelegt wurden. Schweren Herzens entschlossen sich die Kommandeure zu dieser Maßnahme, da vorauszusehen war, wie schwierig es sein würde, die Mannschaften wieder in den Besitz ihres Gepäcks zu setzen. Im Manöver sind das Kleinigkeiten; im Kriege sind hinter der kämpfenden Front alle Straßen und Wege im stärksten Maße in Anspruch genommen; in den Ortschaften ist der größte Teil aller brauchbaren Fahrzeuge und Pferde, die das Gepäck nachbringen könnten, ausgehoben. Die Marschziele der nächsten Tage sind nicht bekannt. So musste es denn der Gewandtheit des Bewachungskommandos überlassen bleiben, das Gepäck baldmöglichst den Kompanien wieder zuzuführen, was denn auch nicht überall gelungen ist. Welche Unbequemlichkeiten der Mann in der Ruhezeit ohne seinen Tornister hat, in dem sich ohnehin doch nur das Allernötigste befindet, liegt auf der Hand.
So ging es ohne Tornister weiter. Da traf, als wir gegen 2 Uhr nachmittags mit dem Anfang des Gros etwa an der Brücke über den Thur-Bach angekommen waren, der Divisionsbefehl zum Angriff ein.
Erheblich waren die Verluste an Marschkranken, die sich wie auch bei den übrigen Regimentern bis auf mehrere Hundert beliefen. Die Hitze forderte ungeheure Opfer. Zahlreiche Fälle von Hitzschlag mit tödlichem Ausgang kamen vor. Als die Bataillone die Linie Pfastatt – Burzweiler erreicht hatten, waren in den letzten 30 Stunden bei ungeheurer Hitze 72 km zurückgelegt worden.
Der 8. August war ein überaus heißer Tag gewesen. Die Kompanien hatten sich an diesem Tage nach der Bahnfahrt und dem Marsch in der Mittagshitze in den Orten des Kaiserstuhls größtenteils schon für die Nacht eingerichtet, als um 4:30h nachmittags der Befehl zum Weitermarsch kam. Von fernher hörte man von 6 Uhr nachmittags ab den ersten Kanonendonner herüberschallen. Durstig, hungrig, abgespannt und todmüde langten die Bataillone nach einer Marschleistung von durchschnittlich 25 km in ihren neuen Quartieren an, das I. und II. Bataillon gegen 9h abends in Breisach, das III. Bataillon 7:15 nachmittags in Hochstetten, nur die Maschinengewehrkompanie blieb in Rotweil. In Hochstetten waren die Häuser beinahe an den Fingern abzuzählen, und doch fanden über 1000 Soldaten in den Scheunen, Ställen, Heuböden für einige Zeit Unterkunft. 9:50 nachmittags gab Generaloberst von Heeringen den Angriffsbefehl.
In der Nacht zum 9. August, gegen 2h vormittags, man hatte vielleicht vier Stunden, zwischen scharrenden Pferden und Kühen liegend, geschlafen, ertönte auf einmal der Ruf „Alarm“. In wenigen Minuten wimmelten Dorf und Stadt von Soldaten, die sich zu Gruppen, Zügen, Kompanien, Bataillone zusammenschlossen, um zum Sammelplatz der Division zu eilen. Ein frischer Wind fegte über die Felder und trieb auf dem nächtlichen Marsch den Schlaf aus den Augen. Unterwegs gab es einen kurzen Halt zur Einnahme eines Trinkbechers Kaffee aus der Feldküche. Auf der Straße Ihringen – Breisach, Anfang am Bahnhof Breisach sammelte sich das Regiment als Vorhut der 28. Infanterie Division. 3:30h begann der Vormarsch über den Rhein – Neubreisach – Dessenheim – Rüstenhart auf Hirzfelden.
Im Morgengrauen überschritt das Regiment 3:45h vormittags den Rhein, und bald darauf war Neu-Breisach erreicht. Dumpf dröhnend öffneten sich die schweren Eisentore der Festung, und lautlos zogen die Truppenverbände durch die Stadt, in deren Straßen sich kaum ein menschliches Wesen zeigte. Die Sonne stahl sich ein wenig hinter dem Gewölk hervor und sandte schon in den frühen Morgenstunden heiße Strahlen auf die marschierenden Truppen. Wie eine lange Schlange zogen sich die Marschkolonnen der Regimenter auf der unendlichen Straße hin, von der man keinen Anfang und kein Ende sah. Der Tornister drückte immer mehr, die Beine wollten immer weniger mittun und der Magen machte seine Rechte geltend.
Anfänglich unterhielt man sich mit seinem Nebenmann, aber bald gab dieser keine Antwort mehr. Man biβ die Zähne aufeinander, nahm das Gewehr bald auf die rechte, bald auf die linke Schulter und schaute nach seinem Vordermann. Solange dieser aushielt, musste man auch aushalten. Eine Ortschaft nach der anderen wurde durchschritten. Ohne Halt, ohne Ruhe. Die Zunge lechzte nach Wasser.
Um 11h vormittags war das Regiment nach einem ununterbrochenen Marsch von 22 km im Wald südwestlich Hirzfelden zu einer Rast übergegangen, die das III. Bataillon am Südwestrand des Waldes sicherte. Die Feldküchen kamen heran und verteilten an die hungrigen Soldaten aus den dampfenden Kesseln Reis und Rindfleisch. Die Sanitäter hatten alle Hände voll zu tun, um die mit Wasserblasen behafteten, vielfach blutunterlaufenen Füße der Grenadiere nachzusehen und zu verbinden.
Man war dabei, sein müdes Haupt auf einen Strohbund zu legen und die brennenden Füße in kühlen Klee zu stecken, als schon 11h vormittags wieder der Befehl an die Kompanieführer kam: „Die Kompanien haben sofort aufzubrechen und den Vormarsch fortzusetzen!“
Also wieder keine Ruhe nach dem ungeheuer anstrengenden Marsch. Da die Artillerie im Galopp an dem hinteren III. Bataillon vorbei nach vorne gezogen wurde, ging es zeitweise neben der Straße querfeldein über Stoppelfelder, Kartoffel- und Kleeäcker. Zu der unglaublichen Hitze kam noch der Staub der Landstraße, der sich auf die Lungen legte, die Beine fingen an zu wanken, der Atem ging immer schwerer, die Sinne wurden immer verwirrter.
Die Augusthitze brannte unerbittlich auf die Kolonnen hernieder, manchem schwanden die Sinne. Zuerst war es einer, dann wurden es immer mehr. Die Truppe, eben erst zusammen gestellt und noch nicht einmarschiert, ließ eine Menge Marschkranker liegen.
2h nachmittags war der Südrand von Wittenheim vom Vortrupp erreicht. Hier endlich trat eine ausgiebige Rast ein; die Bataillone hatten eine Tagesmarschleistung von 35 km und seit dem Vortage eine solche von 60 km hinter sich. Nachdem die erforderlichen Sicherungen ausgestellt worden waren, ging das Regiment in und dicht beim Ort zur Ruhe über. Die 1. und 2. Kompanie trafen nach Erledigung ihres Auftrags als rechte Seitendeckung erst 5h nachmittags in Wittenheim ein."
Es ging in Richtung Mülhausen. Die 30. Infanterie Division sollte am Straßenkreuz bei Oberrieth an der Chaussee von Colmar nach Ensisheim sammeln, um von dort am darauf folgenden Tage – 9. August – den Vormarsch über Meienheim – Regisheim – Bollweiler und Staffelfelden auf Wittenheim anzutreten.
Am 9. August, in früher Morgenstunde, trat das Regiment den Vormarsch an. Ein heißer, ein glutheißer Tag war es, ein Marsch, den keiner der daran teilgenommen hat, je vergessen wird. Unbarmherzig brannte die Sonne hernieder; es ging über Regisheim – Ungersheim in Richtung Bollweiler. Nur mühsam schleppte sich die Kolonne in der glühenden Hitze weiter. Für die nicht einmarschierten, eben eingekleideten Reservisten wurde dieser Marsch eine Qual; starker Ausfall an Fuß- und Hitzekranken war die Folge.
Teil 2: Die Schlacht bei Mülhausen, 09./10. August 1914
Der 9. August 1914:
Generaloberst von Heeringen entschliesst sich am 9. August mit den verfügbaren Teilen der Armee den im Elsass eingedrungenen Feind anzugreifen. Um 5:00h vormittags erhält das IR 112 den Befehl zum Vormarsch nach Mülhausen über Banzenheim, Grünhütte zur Napoleonsinsel. Als Vorhut wird das II. Bataillon bestimmt. Um 10:15h vormittags wird eine längere Rast mit Essenausgabe bei der Försterei Grünhütte gemacht. Es ist sehr heiß.
Der Feind hat Rixheim (siehe Hauptmann Walter Ziemssen und die Einnahme von Rixheim, August 1914 und Rixheim-Schiessstand) und die Höhen westlich davon besetzt. Um 5:00h nachmittags kommt der Befehl zum Angriff. Das Regiment soll, zusammen mit dem Brigade Regiment 142 aus der Linie F. Gehren – Südecke Aviatik, also über seinen Exerzierplatz (heute Habsheim-Flugplatz) angreifen. Um 6:45h nachmittags ist die Bereitstellung beendet, das Regiment tritt zum Angriff an. Der Angriff geht energisch und schnell voran. Auf dem linken Flügel werden geringe Verluste verzeichnet, um 9:00h nachmittags sind die Höhen westlich vom Bahnhof Habsheim genommen. Weit schwieriger und verlustreicher ist der Angriff auf dem rechten Flügel des Regiments. Die feindliche Gegenwehr mit MG und Artillerie ist hier sehr stark.
Um Rixheim tobt ein erbitterter Kampf. Im Ort selbst ist bei der Dunkelheit der Kampf noch heftiger, da Freund und Feind nicht voneinander zu unterscheiden sind. Gegen 11:30h ist Rixheim genommen, der Feind geht in westlicher Richtung zurück. Um die in der Dunkelheit durcheinander gekommenen Verbände zu ordnen, wird das Gefecht abgebrochen und das Regiment sammelt sich auf der Wiese nördlich von Rixheim an der Straße nach Mülhausen.
Der 10. August 1914:
Um 5:00h morgens marschiert das Regiment über Schießstände, Fichtentannenwerkstatt, Baldersheim nach Rülisheim. Dort soll das Regiment der 28. Division zur Verfügung stehen. Nördlich von Baldersheim angelangt, kommt plötzlich der Befehl zum Rückmarsch nach Eschenzweiler. Also in der großen Augusthitze den gleichen Weg wieder zurück. Aber der Ordonnanzoffizier hatte auch die Nachricht gebracht, dass der Feind in hellem Rückzug nach Belfort ist. In Eschenzweiler bleibt das Regiment, bis es um 7:00h nachmittags den Befehl zum Abmarsch nach Mülhausen erhält. In den Abendstunden rückt das Regiment wieder in seine Garnisonstadt ein, und bezieht Unterkunft in seiner Kaserne. Bald nach dem Einrücken gibt es Alarm, da in Zivilkleidung zurück gebliebene Franzosen aus den Häusern geschossen haben sollen.
Die Schlacht von Mülhausen, die Feuertaufe des Regiments, war geschlagen. Trotz grosser Anstrengung der Truppe durch Marschleistung und grosser Hitze war es gelungen, den Feind aus seinen Stellungen zu werfen. Mülhausen, die Garnison des Regiments, war wieder frei.
Die Verluste sind erheblich. Gefallen sind 6 Offiziere, 35 Mannschaften. Verwundet sind 7 Offiziere, 155 Mannschaften. Von den Offizieren war der Kommandeur des III. (Major Schaake) mit seinem Adjutanten (Leutn. Foitzick) und zwei Kompanie-Führer (Hauptmann Walter Ziemssen 9. und Hauptmann Dänzer 12.) sowie die Leutn. d. R. Briem und Helmbold geblieben.
Die nächsten beiden Tage sind Ruhetage für das Regiment. Der Feind hat den Rückzug auf Belfort fortgesetzt. Die aktiven Truppen im Oberelsass werden nun durch Landwehr abgelöst. Am Nachmittag des 13. August verlässt das Regiment endgültig seine Garnison und marschiert bei drückender Schwüle über Habsheim, Kembs, Pionierbrücke Istein, Efringen, Kirchen nach Eimeldingen und Binzen. Der Feind hat im weiteren Rückzug die Westgrenze überschritten. Die 28. Division steht bei Dammerkirch, der linke Flügel des XV. AK (30. Inf. Div.) bei Niederburnhaupt.
In Efringen wird das Regiment am 14. August verladen und fährt zur Verwendung auf einem anderen Kriegsschauplatz über Freiburg, Straßburg nach Zabern.
Gedenkstein auf dem Militärfriedhof bei Illfurth für Walter ZIEMSSEN Hauptmann und Chef der 9. Komp. IR 112. Geb. 4.12.1875 in Graudenz, gefallen 9.8.1914 in Rixheim
Persönlicher Bericht zur Schlacht von Mülhausen von Leutnant d.R. Gronemayer:
"Wie eine schwere Bleilast fiel es von allen Herzen, als endlich der Morgen des 10. August zu dämmern begann und diese heillose, furchtbare Nacht von Rixheim vorbei war. Noch nie ist von allen, die dort auf der Wiese lagen, das Tageslicht so herbeigesehnt worden, wie in jenen unendlich langen Stunden des frühen Morgens. Gott sei Dank, dass es Tag wurde, die ungewisse Dunkelheit zu Ende ging. Sobald die Sonne kam, fanden sich auch die meisten Vermissten wieder ein, die zwischen andere Bataillone und Regimenter geraten waren. Und doch, es fehlten immer noch viele an der Zahl, mit der die Kompagnien zum Sturm angetreten waren. Wie oft wurden Namen aufgerufen und keine Antwort kam, bis einer rief: "ist am Eisenbahndamm gefallen!", „er liegt in dem einen Garten, hat einen Bajonettstich!“ Und so gings mit vielen Namen. Zumal im II. und III. Bataillon. An der Kreuzstrasse haben viele Offiziere und Mannschaften ihr Leben dem deutschen Volke gegeben. Kaum dass der Adjutant dem Hauptmann Ziemssen der 9. Kompanie Mitteilung gemacht, dass der Bataillonskommandeur Major Schaake vorne an der Straße gefallen sei, dass der Hauptmann das Bataillon führe, als auch er am Baum stehend von einer Kugel niedergerissen wurde. Und Hauptmann Dänzer der 12. Kompagnie, nur wenige Minuten hat ihn der Tod das Bataillon führen lassen. An der Kreuzstrasse lagen sie neben ihren treuen und braven Soldaten.
Und viele lagen hier oder im Dorfe verwundet, stöhnend in ihren Schmerzen. Das waren ernste Stunden, dort auf der Wiese bei Rixheim, wo immer wieder neue Namen die Runde durch die Kompagnien machten: „gefallen“, „auch der!“, „schwerverwundet“, „von dem weiss man nichts!“. Das war ein banges Forschen nach lieben Kameraden; immer wieder versuchte man es: „hat einer von Euch wohl den und den gesehen?; man mochte zuletzt gar nicht mehr fragen, es hiess doch: nein!“, und betrübt und leer ging man zurück auf seinen Platz. Aber bei allem Schmerz liess eines die Augen doch wieder hell werden: Rixheim war gestürmt. Mülhausen war wieder frei von den Franzosen! Der Sieg gehörte uns!"
Nun noch eine ausführliche Schilderung über die Feuertaufe des IR 112:
"Am Sonntag den 9. August, war morgens um 6:00h Wecken. Die mit langer Mühe aufgebauten Zelte waren im Nu abgebrochen. Jeder eiferte dabei, seine Zeltbahn und Stöcke, seine 3 „Häringe“ zu bekommen. Es fehlen immer welche, und die fehlen den Letzten. Die Tornister waren wieder gepackt, die Mäntel gerollt, Zeltbahnen gelegt, es war Kaffee getrunken – was wird es heute geben? Keiner wusste oder ahnte es. Gegen 8:00h marschierte das Regiment ab und reihte sich in die Marschkolonne der 29. Division ein, die sich auf der Straße Müllheim – Mülhausen sammelte.
So! Jetzt geht`s wieder vor; jetzt geht`s wieder über den Rhein! Jede Kompagnie, die an die Brücke kam und dort an ihrem Grossherzog vorbei marschierte, sang mit voller Kraft: "Es braust ein Ruf wie Donnerhall!" Als die Bataillone durch Banzenheim kamen, gingen die Banzenheimer gerade zur Kirche. Richtig! Es war ja Sonntag! Daran hatte man noch gar nicht gedacht. Mit Sonntags-Kirchengehen war es jetzt vorbei. Soldaten im Kriege können das nicht, aber dass die Kirchgänger ihrer gedenken würden, das wussten alle. Sonntag!? Der erste Sonntag im Krieg; was mochte der bringen? Unerträgliche Gluthitze lag auf der Strasse. Kein Blatt regte sich im Hardwald. Der Schweiß floss nur so von den Backen herab. Das ganze Gesicht war verschmiert von Staub und Schweisssalz. Die Füsse brannten bis zum Schmerzen. Der Helm drückte und die Nackenmuskeln erlahmten, die vermochten den Kopf nicht mehr hochzustrecken. Die Augen stierten starr auf des Vordermannes Kochgeschirr. Immer weiter, weiter vor auf der liniengeraden Strasse Mülhausen zu. Zu beiden Seiten der Strasse, einige hundert Meter ab, bahnte sich die „Seitendeckung“ ihren Weg durch den Wald. Französische Kavallerie soll drin sitzen, hiess es. Am Forsthaus Grünhütte gings vorbei. Das II. Bataillon war Vorhut, es marschierte bis Napoleonsinsel durch und besetzte dieselbe, während der Rest des Regiments am Mittag an dem Wegkreuz am Kanal, wo nach Süden der Weg zur Bockbrücke abgeht, Halt machte. In einer Schneise setzten die Züge ihre Gewehre zusammen, wurden die Tornister abgehängt und Essen empfangen. Wer nicht von dem ungeheuer anstrengenden Marsche allzu ermüdet sofort einschlief, sah sich die endlosen Kolonnen und Bataillone an. „Donner ja, hört denn das gar nicht auf!“ Jeder wusste, was alles zu einer Division gehört, dass sie in Marschordnung 15 Kilometer lang ist, aber dass so viele Menschen, eine so wahnwitzig lange, zusammenhängende Kolonne von Soldaten, Pferden und Wagen sei, - das hatte doch keiner gedacht. Und das alles war nur eine nur unsere Division!
Gegen 4:00h war es, als alles horchend auffuhr. Was ist? Artillerieschuss! Eins, zwei, drei. Die französische Artillerie schoss weiter vorne. Die ersten Kanonenschüsse, mit Ausnahme derer vom Heuberg, die man hörte! Da geht es doch heute noch los! Und ein seltsames Gefühl beschlich alle. Die Kompagnieführer, die zu einer Besprechung zusammen gewesen waren, kamen zurück. „Zug- und Gruppenführer herkommen!“ “Die Gefechtslage ist folgende“, und genau wie bei den Übungen, mit eben solch selbstverständlicher Ruhe und Überlegenheit gab der Hauptmann an, was vom Feind bekannt war, was das Regiment, das Bataillon, die Kompagnie als Aufgabe hatte. Nur dass er nicht sagte: „rot“ hat das Dorf Rixheim besetzt, sondern „die Franzosen“ haben das Dorf und die Höhen von Rixheim besetzt; noch heute muss es von uns genommen werden! Gott sei Dank! Jetzt hat man wenigstens Gewissheit! Heute noch, heute abend, gleich ging es in die Schlacht! Jeder Mann bekam zu seiner Taschenmunition noch zwei Tragegurte mit Patronen, die an um den Hals hängte und am Koppel festband. Die Zugführer sprachen noch von „Anschluss halten!“ und „Ruhe im Wald!“ und um 6:00h begann die Entfaltung. Das war eine seltsame Sache: der Anmarsch aus Richtung Müllheim, der Weg über die Bockbrücke, die Entfaltung der Bataillone, die Aufstellung der Kompagnien am Waldrande beim Exerzierplatz – wie oft war das geübt; man kannte ja jeden Damm, jede Waldecke. War denn Besichtigung? Wenn die scharfen Patronen nicht gewesen wären, so hätte man in der Tat meinen können, es sei Kaisermanöver.
Der linke Flügel des Regiments lag am Aviatikschuppen, daran schlossen sich die anderen Kompagnien nach Norden bis nahe Napoleonsinsel an. Der rechte Flügel des Regiments trat von Forsthaus Gehren zum Angriff an, das III. Bataillon war Reserve. Alles war bereit, fertig aufgestellt, wartete gespannt auf den Angriffsbefehl. An der Napoleonsinsel war das Gefecht schon im Gange, aber weiter südlich herrschte völlige Ruhe, war nichts auffälliges zu sehen. Drüben konnte man die Franzosen beim Schanzen beobachten; ja, auf dem „Habsheimer“ trieb noch ein Schäfer seine Herde, bis die ersten deutschen Granaten über ihn wegsausten und zwischen die arbeitenden Franzosen schlugen. Am Waldrand war die Batterie aufgefahren. Mit tollem Karacho kamen die Geschütze angaloppiert; mitten in die Schützenlinie hineingefahren – abprotzen – ein kurzes Brüllen von Infanteristen unverständlichen Worten und – ja, man müsste schon nach Sekunden zählen – die ersten Schüsse krachten und – sassen. Das war ein Spass für die in der Nähe liegenden Leute, wie so eine Granate nach der anderen herausgejagt wurde, den Franzosen auf den Höhen zum Gruss. Aber dann fing die feindliche Artillerie an, diese Batterie zu beschiessen. Verflucht! Was krachte das im Wald! Ganz übel knallte, klatschte und raschelte es, wenn die Schrapnells oben in die Gipfel fuhren. Und dann kam der erste Sprung. Wie das durchdrang, wie man sein Gewehr fester packte! Zum ersten Male das langgezogene „Sprung“ und das scharfe, harte „Auf Marsch-marsch!“ Und wie sie vorstürzten: vorne dran der Leutnant mit seinen schnellen Beinen, dann die Gruppenführer und dann die Musketiere. Das war ein Springen, ein Vorstürzen! Bei der besten Besichtigung hätte es nicht glatter und schneidiger sein können. Keiner fiel, keiner war verwundet. Die Franzosen schossen von Rixheim, was das Zeug halten wollte, doch alle Kugeln pfiffen drüber weg, schlugen klatschend oben in den Wald. Die andern Züge kamen, die andern Kompagnien kamen heraus. Mitten unter ihnen die entrollte Fahne. Die Fahne! Hell flatterte sie im Winde; stolz und fest hatte der Fahnenträger sie gepackt. Das erste Mal, dass die Fahne frei war; auch für sie das erste Gefecht. Nein, sie wusste noch von 70 her, wie es in der Schlacht zuging, um so freudiger wehte sie jetzt nach den 40 Jahren des Friedensgefängnisses. War es nicht so, als riefe sie ihren jungen, kühnen Soldaten zu: „Macht`s wie 70! Macht`s wie die Alten!!“ Wie herausgezaubert traten die Bataillone plötzlich aus dem Waldrand heraus und rannten in langen, weiten Sprüngen vor. Man würde wohl lügen, wollte man nicht zugeben, dass einen Jeden eine furchtbare Spannung und Aufregung während der ersten Sprünge gepackt hätte. Doch nach dem 3. und 4. „Auf, Marsch-marsch“, als man schon beinahe mitten auf dem lieben, so oft verwünschten Exerzierplatz lag und die Franzosen immer noch so schlecht trafen, da kam sichere Ruhe in die Reihen. Wie konnte man denn auch unruhig und bange sein, wenn man sah, wie Kompagnie- und Zugführer aufrecht hinter ihren Leuten standen oder hin und her gingen. Wer fühlte sich nicht sicher, wenn er seinen Feldwebel sah, wie er prüfte, ob die Gewehre auch richtig eingezogen waren, wie er einen Reservisten scherzend anpfiff, weil 3 Nägel an seinem linken Stiefel fehlten. Wie sollte sich der ganze Zug nicht geborgen fühlen, wenn sein Führer, ein alter erprobter China- und Südwest-Kämpfer, plötzlich mitten auf dem „Habsheimer“ erklärte: "ich meine jetzt ist es wohl Zeit, dass der Zug sich eine Zigarette ansteckt!" Gelacht haben die Leute; und wenn eine aufdringliche Kugel die Nasen in den Dreck fliegen lies, um so lauter hat man nachher seinen Nebenmann angelacht. Herrschaft! Was ist solch ein Gefecht doch ein merkwürdiges Ding! Die Granaten sausten oben hin- und herüber. Vor und hinter einem krachten die Einschläge mit Donnergetöse; wie Mückenschwärme sangen die Infanteriekugeln. Ab und zu schrie einer auf, den die Franzosen getroffen hatten. Und dabei wieder das altgewohnte, in den Knochen sitzende Springen, das Deckung suchen hinter den bekannten kleinen Bodenwellen, hinter den Kuscheln.
Es war längst dunkel geworden; der Himmel war rot und schwarz und gelb. Im Norden brannte Napoleonsinsel, in Rixheim standen mehrere Häuser in Flammen, dazwischen zuckten wie Blitze die Abschüsse der französischen Batterien und die Einschläge unserer Granaten. Die Schrapnells krachten, die Kugeln pfiffen, Befehle wurden durchgebrüllt und immer näher an den Rixheimer Berg stürmten die deutschen Schützenlinien im Sturmschritt. Mit ungeahnter Geschwindigkeit war der Exerzierplatz übersprungen. Das war sicher leichter gewesen, als alle gedacht hatten.
Wahrlich, den Kompagnien nördlich des Platzes und an der Straße Forsthaus – Gehren – Kreuzstraße erging es nicht so leicht. Gleich bei der Entwicklung bekamen sie Feuer; beim ersten Sprung gleich fielen welche. Unter ihnen Leutnant Helmbold. „Der älteste Unteroffizier Zug über....“, mehr brachte er nicht heraus. Über Ackerland und Kleestücke, durch Haferfelder ging der Angriff. Mit Artillerie- und Infanteriefeuer suchten die Franzosen die Vorstürmenden zurück zu halten! Vergeblich! Unbekümmert um Krachen und Blitzen, um Aufschreien der Verwundeten und Fallen der Kameraden sprangen die Züge vor. Und je mehr sie vorkamen, um so schneller wurden die Sprünge, um so wilder und toller das Vorstürzen. Nur diese verdammten Maschinengewehre! Sie hämmerten und ratterten und spritzten ihre Kugeln – wahnsinnig! In der Kreuzstraße sassen die Franzosen. Ein Gutes, dass es dunkel war, die Franzosen nicht mehr deutlich sehen konnten, nur an den Aufblitzen der Gewehre und den immer lauter vernehmbaren Kommandos merken konnte: „Sie kommen! Sie kommen!“
Das freie Feld, der Exerzierplatz war geschafft, das war der leichtere Teil. Doch jetzt – die Straße, der Eisenbahndamm, die Rebberge, die Kreuzstraße – jetzt wurde es böse. Und vorne dran noch die unselige Weissdornhecke, die zum Durchkriechen zu dicht, zum Überspringen zu hoch war. Mit Kolben und Seitengewehr und Beilpicke mussten oft Gassen geschlagen werden. Die Franzosen kannten die Hecke wohl, o, sie kannten sie zu gut. Gar mancher blieb vor der Hecke liegen, jammerte elend verwundet in den Dornen hängen bleibend oder rollte in den Graben um nicht wieder aufzustehen. Die anderen aber sammelten sich, so gut es ging, und dann kam der Sturm! „Seitengewehr pflanzt auf!“, es gibt kein Signal, das einem im Frieden schon so in die Knochen und Muskeln fuhr als gerade dieses. Jetzt schrien es die Hörner in die tobende Dunkelheit hinein. Wie flitzten die Seitengewehre heraus! In beide Fäuste das Gewehr! „Hurra!“ Mit brüllendem Hurra gings über die Straße, über die Bahn, die Steilhänge hinauf. Die Trommler schlugen ihren dumpfen Sturmschlag und die Hornisten bliesen ihr „Kartoffelsupp, Kartoffelsupp!“ unermüdlich; immer wieder „Kartoffelsupp!!“ Als einer der Bläser nicht mehr konnte, seine trockenen Lippen versagten, da gab ihm sein Nachbar im Vorwärtsrasen den Rest seiner Feldflasche, dann gings wieder: „Kartoffelsupp, Kartoffelsupp!“. Wahnsinnig solch ein Sturm! Kein Mensch konnte genau sehen, was los war. Ist ja auch gleich, nur vor! nur herauf! „Warte nur Franzmann da oben! Warte nur, wir kommen!“ Es war schon kein Hurrarufen mehr; ein Keuchen und Schreien war es, tierisches Brüllen. Die Franzosen nahmen den Sturm nicht an. Ehe die Unseren völlig oben waren, hatten sie sich zurück gezogen. Kein Schuss fiel mehr. Nur das markerschütternde Hurrageschrei, das die Nacht erfüllt. Einen Augenblick trat Stille ein. Furchtbare Stille. Dann brachs von neuem los: „Rixheim! In Rixheim sitzen sie!“ Drauf, Hurra! Und alles was da war, ganz gleich welche Kompagnie, welches Bataillon oder Regiment – nach Rixheim!
Kein Schuss fiel, bis die Stürmenden auf 50 Meter an den Häusern heran waren, dann blitzte und krachte es aus allen Ecken, Fenstern Dachluken. Nachtgefecht! Häuserkampf in dunkler Nacht – schaurig! Entsetzliche Bilder, ohrenbetäubender Lärm! Geordnete Abteilungen gibt es da nicht. Einzelne Rotten unter irgend eines Tapferen Führung, so stürzten sie drauf zu. Haus für Haus. Die reinste Teufelswirtschaft. Eben noch hatte es aus den Kellerfenstern aufgeblitzt, und wenn man hereinkam, fand man nichts als weinende und jammernde Frauen und Kinder, die in ihrem heillosen Zittern sagten: „es sind keine drin!“ Ganz deutlich hatte man aus dem Hause krachen hören, das ganze Haus wurde abgesucht – kein Franzose war zu finden. Und wie grenzenlos packt einen da die Wut. Massloseste Wut, die alle Gefahr und Rücksicht vergessen lässt, die nur in dem Niederringen des Gegners ihr Ziel findet. Und kann man von denen Schonung erwarten, die eben ein Haus durchsucht haben, nichts drin haben finden können, und bei Weiterstürmen rücklings aus demselben Hause angeschossen werden, die einen der Kameraden fallen sehen, und denen dann – wie sie von neuem in das Haus dringen – die Franzosen mit erhobenen Händen entgegen kommen? Von Haus zu Haus, von Straße zu Straße, von Garten zu Garten, ein fortwährendes Kämpfen, Stürzen, Brüllen. Woher kam nur die Kraft, diese übermenschliche Kraft die nötig war. Die Beine waren zum Zusammenknicken müde, am liebsten wäre man auf dem Blumenbeet, auf das man gestürzt war, liegen geblieben, - doch auf, weiter! Draufzu! Hurra! Wie brannte, ja schmerzte die trockene Kehle. Die grünen Äpfel in den Gärten löschten den Brand. Aber bei dem Obstessen konnte man nicht brüllen, weg mit dem Apfel! „Hierher, hier sind sie! Hurra!“ Das ganze Dorf war ein Hexenkessel, in dem es kochte und zischte. Wer wusste noch, in welcher Straße die Franzosen, in welchen Häusern die Deutschen waren. Bis die Deutschen „Die Wacht am Rhein“ als Losung zu singen anfingen. Das waren sicher keine Feinde.
Die Franzosen hatten sich in den oberen Teil des Dorfes zurück gezogen. In einem der Häuser am Markt hatten sie ein Maschinengewehr aufgestellt, mit dem sie die Hauptstrassen bestrichen. Da war kein Weiterkommen. Fortwährend pfiffen die Kugeln die Häuser entlang. „Das MG, das müssen wir haben!“ - aber wie? Ein schmaler Streifen auf der einen Häuserseite lag im Mondschatten. Ein paar schneidige Leute krochen in dem dunklen Schatten vor; vorsichtig und geräuschlos, wie Katzen arbeiteten sie sich heran. Ganz nahe waren sie schon heran, als plötzlich das Maschinengewehr schwieg. Die Franzosen waren mit ihrem Gewehr verschwunden. Bis gegen 1:00h hielt das wüste Toben und Kämpfen an, dann war Rixheim in unserer Hand. Aus allen Teilen der Stadt kamen deutsche Abteilungen, überall traf man grössere und kleinere Trupps, die sich mit „Deutschland, Deutschland über alles“ oder „Es braust ein Ruf wie Donnerhall“ zu erkenne gaben. Das Wüten des Nachtkampfes lies nach; hie und da fiel noch ein Schuss bis alles schwieg. Gott sei Dank! Wo ist die Kompagnie? Wo das Bataillon? Ja, wer wüsste das? Nur soviel war bekannt, das Regiment sammelt sich auf der Wiese nördlich Rixheim an der Strasse nach Mülhausen.".
Teil 3: Mit der Artillerie bei Napoleonsinsel
Gemäß Divisionsbefehl vom 9.8., 3:30 Uhr vormittags begann um 6:45 Uhr vorm. der Vormarsch der 29. Division auf Mülhausen, das vom Feinde besetzt war. Die Division marschierte in zwei Kolonnen und zwar:
I. über Banzenheim, Straße nach Ensisheim / Battenheim auf Baldersheim
II. über Bahnhof Banzenheim – Grünhütte nach Napoleonsinsel.
Das Artillerie-Regiment 76, mit Ausnahme von 3./76 und 4./76 marschierte in der rechten Kolonne, I./76 in der Vorhut, II./76 im Gros vor Feldartillerie Regiment 30. 3./76 war mit einem Bataillon des Infanterie Regiments 170 vorgesandt, um die Brücken über den Kanal offen zu halten. 4./76 marschierte bei der linken Kolonne.
9 Uhr vormittags nahm das Regiment eine Bereitstellung östlich Battenheim, gegen Süden durch zwei kleine Waldparzellen gedeckt.
11 Uhr vormittags ging das Regiment in südlicher Richtung vor und nahm 1:15 Uhr nachmittags eine Bereitstellung, dicht nordoestlich Baldersheim. Hier trat 3./76 wieder zum Regiment. 3:30 Uhr nachmittags ging die II.76, der 58. Inf. Brig. unterstellt, durch den Hardtwald und bezog am Waldrand, am Ostrand des Exerzierplatzes, Feuerstellung. Aus dieser Stellung unterstützte II./76 von 8 Uhr bis 10 Uhr abends den gegen die Höhen Rixheim – Habsheim vorgetragenen Infanterieangriff mit sichtlich guter Wirkung. Die Abteilung verblieb die Nacht in ihrer Stellung. 4./76 war wieder zu II./76 am Rande des Exerzierplatzes zurück getreten.
Der Regimentsstab hatte, als er am Nachmittag zur Erkundung bis Bahnhof Napoleonsinsel vorgeritten war, dort seine Feuertaufe erhalten. Der damalige Meldereiter beim Regimentsstab, Einj. Unteroffizier Hammer, schreibt über dieses Erlebnis in seinem Tagebuch:
„Hier und dort flackert Infanteriefeuer auf. Die Franzosen sitzen in befestigten Stellungen um Mülhausen herum und erwarten uns und wir tun ihnen den Gefallen. Ganz allmählich entwickelt sich die Schlacht. Vor uns Bahnhof Napoleonsinsel, dahinter die Mülhauser Rebberge, darauf die Franzosen, wo, weiß man noch nicht genau. Unsere Artillerie beginnt aufklärendes Schießen, das unerwidert bleibt. Stab galoppiert nach Napoleonsinsel. Infanterie ist schon soweit vor. Als wir nahe hinkommen, da liegen die ersten toten Pferde da, - „hier schieβt’s“ sagt man. Wir reiten durch den Wald, einen Weg zu suchen, um unsere Batterie gedeckt vorzubringen – geht nicht, Brücken halten nicht. Zurück zum Bahnhof. Da pfeift’s schon ganz lustig; pack, pack fällt der Kalk von den Wänden. Der Kommandeur geht schneidig vor; er, der Adjutant und ich, laufen zu dem brennenden Bahnhofsgebäude. Pferde bleiben in Deckung. Da geht ein lustiges Geprassel los. Die einzelnen Detonationen hört man nicht mehr. Es kommt reichlich von oben, Ziegel, Äste und dünnes Blei, eine nette Mischung müssen die Franzosen in ihren Granaten haben, weh tut’s nicht. Das Haus ist ziemlich ausgebrannt, nur einige Mauern stehen noch. Aufschläge hauen dicht bei uns zwischen die Schienen, hohe Fontänen von Dreck und Eisen auswerfend. Die Ausbläser torkeln lustig vorbei und von oben kommt’s wie die heilige Taufe. Ein Infanteriemajor (169.) konstatiert seine „erste Kugel“, ein Stück weiches Blei, was durch den Rock fuhr und im Unterzeug sitzt.
Neben dem Bahnhof gehen die 169er tapfer vor, in entwickelnden Schützenlinien, ohne Deckung im dichten Artilleriefeuer.
Der Hafer, schon niederliegend, brennt infolge der zahlreichen Aufschläge. Hier und dort hascht es einen; schwer und lautlos sinken sie dahin, die braven Kerls. – Hier ist unmöglich unsere Artillerie vorzubringen. Bisher hat sie eine französische Batterie entdeckt und zum Schweigen gebracht. Im übrigen wissen wir noch nicht, wo die anderen feindlichen Batterien stehen. Sie bedenken den Bahnhof mit besonderer Sorgfalt und jagen eine Gruppe nach der anderen in den brennenden Laden. Die Pausen dazwischen benutzt man, um sprungweise zurückzugehen. Hinter dem nächsten Hause sitzt Lt. Puchstein, der mit derselben Ruhe wie beim Exerzieren in der Batterie seine Feststellungen macht. Ich photographiere fix noch den Bahnhof als den Schauplatz unserer Feuertaufe; Zigaretten sind sehr gut gegen Nerven und so, was auch andere feststellen, zum Schaden meines Vorrates.“
Wir wenden uns jetzt der 1./76 zu. Diese ging mit 1. und 2./76 um 5:30 Uhr nachm. in Stellung an der Chaussee, östlich des Waldstückes, 1 ½ km östlich Sausheim. 3./76 wurde hinter den in Stellung befindlichen Batterien zur Verfügung gehalten.
Eine Stunde später wurde die Abteilung über Fichttannen-Werkstatt-Punkt 240 auf F.-Gehren vorgezogen. 3./76 ging am Waldrande südlich F.-Gehren in Stellung und feuerte zur Unterstützung der eigenen Infanterie auf feindliche Infanterie und Maschinengewehre bei Rixheim. Der Rest der Abteilung hielt auf der Straße nach F.-Gehren. Das Regiment blieb in der Nacht in erhöhter Gefechtsbereitschaft in seinen Stellungen. Der Regiments-Stab biwakierte bei der II. Abteilung am Waldrande. Es lief die Meldung ein, dass sich in unserer linken, vollständig ungeschützten Flanke, allerdings in großer Entfernung, eine französische Kavallerie-Division befinde. Diese Nachricht war gerade nicht angenehm, da das Regiment auf dem äußersten linken Flügel der im Gefecht befindlichen Truppen völlig in der Luft hing und eine nicht nennenswerte Bedeckung hatte. Hätte die feindliche Kavallerie-Division diese Situation erfasst und ausgenutzt, so hätte sie einen großen Erfolg davontragen können. Die Division soll jedoch, auf einige in ihrer Nähe einschlagenden schweren Schüsse von der Feste Istein hin, kehrt gemacht haben und in Richtung Belfort zurückgetrabt sein. Unsere Befürchtungen waren infolge dessen, gottlob, umsonst.
Als am anderen Tag, dem 10. August die Division vormarschierte, fand man die Höhenstellungen bei Mülhausen verlassen vor. Der Gegner hatte sich zurückgezogen. Man ging noch bis in die Gegend von Brubach vor, und bezog dann gegen 3 Uhr nachm. Quartier in Mülhausen und Umgebung.
Hauptmann v. Bothmer schrieb über seine Erlebnisse bei Mülhausen folgendes:
"Am 9. August werde ich in aller Frühe aus dem Schlafe geweckt. Draußen ruft jemand nach dem Abteilungs-Kommandeur. Ich schlage die Zeltbahn zurück. Es dämmert und dunkel steht des Schwarzwälder Belchens mächtiger Rücken gegen den blassblauen Osthimmel. Ein Unteroffizier bringt den Befehl des Regiments: „Die Armee greift an.“ Diese Worte prägten sich fest ins Hirn. Alle Einzelheiten sind schnell wieder vergessen, aber dieser kurze prägnante Satz, wie eine Fanfare klingt er im Ohr. Und dies „wir greifen an“, wie kommt es unserem ganzen Wollen und Wünsche entgegen. Nur nicht hier liegen bleiben in defensiver Untätigkeit, während irgendwo anders Entscheidungen fallen. Wir erfahren, dass wir und das 15. Korps zur 7. Armee unter dem Generalobersten von Heeringen gehören. Schnell einen Bissen Brot, einen Schluck brühheißen, rauchig schmeckenden Biwakkaffee, und schon geht es vor zum Befehlsempfang. In einem taufrischen Wirtschaftsgarten des kleinen Dorfes Eichwald (Anm.: heute Chalampé) wird der Befehl ausgegeben. Man erfährt, dass sich der Gegner in und um Mülhausen verschanzt hat, „die 58. Inf. Brig. geht über Banzenheim durch den Hardtwald auf Baldersheim. I./Felda. 76 folgt dem III. Inf. Regt. 142 usw“. Die Marschkolonne ist bald eingefädelt, und wieder sind die Köpfe unserer Pferde nach Westen gerichtet. Aber diesmal haben wir mehr Selbstvertrauen wie vor wenigen Tagen, als wir so mutterseelenallein mit unserem Grenzschutztrüpplein im Lande herumzogen. Und die Kriegslage ist auch nicht gerade neu und ungewohnt. Auf dem Kriegsspielplan im Kasino, im Sommer und im Winter im Gelände wurde sie in all den Jahren bearbeitet. Gelingt alles, dann dürfen die Schweizer ihre Internierungslager einrichten. Nun, vorläufig ist es noch nicht so weit.
Gleich hinter Eichwald hält der General von Koschenbahr mit seinem Stabe. Er scheint in freudig erregter Stimmung und bespricht sich lebhaft mit einigen Stabsoffizieren. Bilden er und sein Stab eine ähnliche Gruppe wie das bekannte Bild? Jedenfalls summt es mir auf einmal deutlich im Gehör: „Morgenrot, Morgenrot, leuchtet mir zum frühen Tod“. Im nächsten Moment ist diese Vision – wenn man sie so nennen kann – wieder hinweggewischt durch neue Gedanken, neue Eindrücke. Wieder geht es hinein in den Wald mit seinen schnurgeraden, langen Straßen, seinem buschartigen, wenig Schatten spendenden Baumwuchs. Die Sonne steigt, und drückend heiß wird die Luft. Pferde- und Menschenschweiß, Lederzeug, Bremsenöl, Achsenschmiere, vereinigen sich zu dem jedem Soldaten bekannten und – wage ich zu sagen – den Soldaten anheimelnden Kolonnendunst. Aber heute wird es arg. Weißlicher Staub quillt auf unter Hufen und Stiefeln, legt sich wie eine Wolke über die Straße, pudert Mann und Ross. Streifig, scheckig werden die Gesichter, wo der Schweiß in kleinen Bächen über die Staubkruste rinnt. Wir Reiter haben es ja noch gut, nur dass wir bei diesem ewigen Schrittreiten beginnen den Sattel zu spüren. Aber der Infanterist ist übel dran. Die Luft stagniert völlig in diesem verdammten Walde. Rechts und links taumeln erschöpfte Musketiere mit glasigen, hervorquellenden Augen in den Straßengraben, liegen apathisch mit krampfhaft atmender Brust da. Weiter, weiter, nur heraus aus diesem Wald. Gottlob, gegen Mittag erreicht der Anfang den Westausgang, und es wird kurze Rast gemacht. Nun hat’s wieder der Fußsoldat besser. Ihm wird das Essen in einer dampfenden, brodelnden Feldküche nachgefahren. Uns hat das Kriegsministerium noch nicht mit dieser segensreichen Einrichtung bedacht, und so gilt es denn, sich mit dem Inhalt der Packtasche zu begnügen.
Da lag es nun wieder vor uns, das schöne Oberelsass. Die heiße Sommerluft flimmerte über den gesegneten Fluren. In einem nahen Bauernhause gackerten Hühner, ein Hund bellte. Ein Flug Tauben rauschte über unsere Köpfe. Friede, tiefer Friede und dort im Süden, ganz verschwommen im Dunst das Häusermeer von Mülhausen. Grell blitzt ein sonnenbeschienenes Glasdach. Da im Süden wartet der Feind.
Man setzt sich in Marsch. Battenheim und Baldersheim bleiben rechts liegen. Immer noch ist es still. „Quel beau jardin“ sagte Ludwig XIV. bewundernd, als er über die Zaberner Steige ritt. Begreiflich ist sie, diese alte Gier der Franzosen nach dem Elsass! Endlich am Spätnachmittag fallen noch einige Schüsse, die bald in lebhaftes Schützenfeuer übergehen. Nun mischen sich auch von drüben Kanonen ein. Es wird ernst. Noch immer das gewohnte Bild. Adjutanten jagen herum, rasselnd, im Laufschritt eilt Infanterie vorbei. An einem Waldstückchen, nördlich Napoleonsinsel, gehen wir in Stellung. Wie im Manöver. Ja sogar die Angst vor Flurschaden und vor dem Auftauchen eines ergrimmten Schiedsrichters in weißer Helmkappe steckt uns noch im Blut. Neben mir steht der Brigade- Kommandeur, eine Zigarette im Mund, und, wie auf dem Schießplatz, ein sarkastisches Lächeln in den markanten Zügen. Ich blicke durchs Scherenfernrohr. Über dem Dorf platzen Geschosse und nun auch weiter rechts vor einem langgestreckten rötlichen Gebäude. Da sehe ich zum ersten Male, diese schwarzen Rauchbäume der französischen Granaten. Seltsam, wie sich einem etwas an sich Belangloses so fest ins Gedächtnis einprägen kann; auf einmal ist ein Sanitätswagen im Sehfeld des Scherenfernrohrs. Zwei – drei Sprengwolken dicht dabei, die Pferde des Gespannes steigen, ein Begleitmann springt ab, stolpert, fällt; das Fahrzeug geht durch, verschwindet.
Mittlerweile ist der Regiments- Stab nach Napoleonsinsel vorgaloppiert. Unaufhörlich krachen dort Geschosse. Nun steigt dichter, bräunlicher Qualm auf und wälzt sich in dicken, schweren Schwaden westwärts. In rasendem Galopp kommt ein Ordonnanzoffizier auf der Chaussee zurückgejagt. Aufs höchste erregt, brüllt er nach einem Arzt: „General von Koschembahr ist schwer verwundet“ (er war bereits tot). Bei der 84. Brig. sehe es nicht gut aus, die 169er hätten schwere Verluste. Es ist 6:30 Uhr nachm. Napoleonsinsel ist genommen, aber gegen die Ringbahn will der Angriff nicht recht vorwärtskommen. Stellungswechsel für uns. Wir sollen uns durch den Hardtwald nach der Gegend von Rixheim ziehen und von dort den Angriff unterstützen. Der Stab im Galopp voraus.
Nach Überschreitung des Kanals gelangen wir auf die Straße Ottmarsheim – Rixheim und erreichen den Waldrand beim Forsthaus Gehren. Absitzen, an den Brunnen und trinken. Das war das erste. Dann Erkundung. Schlecht genug sieht’s aus. Dichtes, struppiges Unterholz hindert das Vorbringen der Geschütze und... puiii... puiii... und dann taktmäßig klak... klak... klak... geht’s gegen die Mauer, dass der Mörtel nur so herumspritzt. Pfui Teufel, Maschinengewehre! „Ewig kannst du hier nicht sein, denkt sich Knopp voll Seelenpein“ sagt Wilhelm Busch, und wir können schon deswegen nicht bleiben, weil die Batterien im Anmarsch sind. Geraten sie aber auf dieser schnurgeraden Straße, in der es kein Ausweichen gibt, in das Maschinengewehrfeuer, dann tritt eine Katastrophe ein. Nein, sie müssen spätestens am Kanal angehalten werden.
Während ich noch auf meinem starkknochigen Braunen in Deckung des Forsthauses halte, jagt der Schwarzschimmel des Regiments- Adjutanten reiterlos auf der Straße vorbei: Donnerwetter, sollte der Oberlt. Moβdorf gefallen sein?! Aber nun die Batterien; keine Zeit mehr. Mit einem Satz bin ich auf der Straße, und nun geht’s – haste, was kannste – darauf entlang. Unangenehm pfeift und singt es um die Ohren. Ungemütlich sind diese Staubfontänen auf der Chaussee. Ist doch ‚ne Gemeinheit, so hinter einem einzigen Menschen wie hinter einem Hasen herzuschießen! Aber es geht gut, und keine Minute zu früh, um die Abteilung bei Punkt 249 anzuhalten. Gleich darauf ist mir die Vision des furchtbar auf seinen Burschen fluchenden Regiments- Adjutanten in Erinnerung. Er war wohlauf, nur das Pferd hatte sich losgerissen.
Was nun weiter? Vorne schreit alles nach Artillerie. Auf der engen Straße vorzugehen, wäre sinnloser Selbstmord, auf den verwachsenen Schneisen die Geschütze einzeln vorzuschicken, erscheint zunächst unmöglich. Und doch muss es gehen, und ... es geht. Ein Glück für uns, dass die Franzosen so schwach an Artillerie sind. Von der Bastion der Rixheimer Höhen können sie die Straßen durch den Wald wie ebensoviele Engpässe bestreichen.
Unter großen Schwierigkeiten erreichen die Batterien den Waldrand, und nun nehmen sie energisch das Feuer auf. Bei dem Versuch, noch weiter südlich Stellung zu finden, stehe ich plötzlich am Rande des Habsheimer Exerzierplatzes, und einen Augenblick vergesse ich alles über dem malerischen Bilde, das sich mir darbietet. Unwillkürlich muss ich an Röchlingsche Gemälde denken. Die Sonne ist gerade untergegangen. Violette Nebelschleier liegen um die Hügel, gleiten über die graugrüne Fläche des Platzes. In dichten Schützenlinien gehen die 114er vor, lebhaft unterstützt durch unsere II. Abteilung. Besonders deutlich entsinne ich mich eines baumlangen Feldwebels, der seinem Zuge vorausläuft. Im Schatten der Anhöhen blitzen unsere Artilleriegeschosse auf. Hier steht das Gefecht günstig, weiter links sind die Höhen hinter Habsheim anscheinend schon in unserem Besitz.
Zurückgekehrt zu meiner Abteilung fand sich eine weniger erfreuliche Situation vor. Unsere Infanterie kam hier nicht vorwärts. Ein verwundeter Leutnant, auf einem Pferde hängend, das von einem Musketier mit verbundenem Kopfe geführt wurde, fragte mit schwacher Stimme nach einem Arzt. Immer mehr Verwundete schleppten sich an uns vorbei, und mit unverminderter Heftigkeit dauerte vorn das Schießen an.
Es wurde dunkel. Wir mussten das Feuer einstellen, um nicht die eigenen Truppen zu gefährden. Dann tönte in Rixheim deutlich und mehrfach das Signal „das Ganze – halt“. Sonderbar. Unverständlich, unklar alles. Wie sich später herausstellte, hatten Teile der Infanterie die Nerven verloren, und im Walde hinter uns gab es viele Versprengte. Da wurde sogar ein Unteroffizier der I. Munitions-Kolonne von so einem Gespensterseher für einen Franzosen gehalten und angeschossen. Dieses erste größere Gefecht war noch reich an allerhand Reibungen.
Es war Nacht geworden, aber der Mond, der vom wolkenlosen Himmel herunterschien, verbreitete ein mattes, unwirkliches Licht. Auf einem Stein am Chausseegraben hockend, teilte ich meine letzte Ölsardinenbüchse mit einem wildfremden Infanterieoffizier. Endlich hörte die Schießerei vor uns auf. Dann kam wiederum Infanterie vorbei. Man habe den Angriff aufgeben müssen und werde für die Nacht in den Wald bis an den Kanal zurückgehen. Es wäre ein Unsinn gewesen, vor der eigenen Infanterie stehen zu bleiben, so gingen denn auch wir schweren Herzens hinter den Kanal zurück. Da standen die Batterien aufgeprotzt bereit. Nun wurde es ganz still. Napoleonsinsel brannte noch immer, und weiter westlich war der Himmel ebenfalls rot. Wie mochte es dort stehen? Ich lehnte nachdenklich am Brückengeländer und harrte der Dinge, die da kommen sollten.
Dabei baumelten mir die schweren Quasten der Adjutantsschärpe gegen die Beine. Diese schönen Silberquasten hatten mich heute wahrlich genug geärgert. Aber es steht geschrieben „so dich ein Glied ärgert, so schneide es ab“. Also! Ein doppelter Schnitt, ein doppelter glucksender Plumpser im Kanal, dann war es wieder still.
Im Osten lichtete sich der Horizont. In den Büschen begann hier und da ein Vogel zu zwitschern, in langen Pausen fielen einige Schüsse. Endlich – es ist schon ganz hell – bekommen wir Befehl, uns in unsere alte Stellung nördlich Napoleonsinsel zu begeben, um einen etwaigen französischen Gegenstoß abzuwehren. Diese Stellung, wenn ich daran denke! Auf einer „elenden Plaine“, wie Major Witter sich ausgedrückt hätte, die flachen Geschützeinschnitte wie an einer Perlenschnur gezogen, von den Mülhäuser Höhen überhöht, es hätte eine böse Geschichte geben können, wenn....ja, wenn der Feind nicht gerade so ein Anfänger gewesen wäre wie wir.
An einen Nussbaum gestützt, denke ich gerade daran, welch ein Hochgenuss doch so ein schönes, breites, weiches Bett ist, als der Befehl kommt „Verfolgung, der Feind geht fluchtartig zurück“. Erst denke ich, der Befehlsüberbringer ist verrückt, dann aber kommt mir der strategische Gedanke, dass das von Norden vorgehende Korps Deimling... nun ja, zu weiteren Generalstabsideen ist keine Zeit. „Protzen heran“. Tatsächlich waren ja die Franzosen, besorgt um ihre Rückzugsstrasse, in der Nacht Hals über Kopf abgezogen. Das Gefecht von Mülhausen aber wurde so für uns das, was Friedrich der Große einen „ordinären Sieg“ nennt.
Wir passieren Napoleonsinsel, um das tags zuvor so heiß gekämpft wurde. Es sieht scheußlich aus. Zwischen den schrecklichen Brandruinen liegen auf der Straße umgeworfene Fahrzeuge, Pferdekadaver, Gefallene. Mitten auf dem Fahrdamm ein erschossenes Offizierspferd, den darunter liegenden, zerschmetterten Reiter fast verdeckend. Daneben eine große, schwarze Blutlache. Dort ein feldgrauer Infanterist breit auf dem Rücken liegend. Aus tiefdunklem Gesicht starren gebrochene Augen. Da wieder liegen mehrere Leichen auf einem Haufen. Besonders deutlich erinnere ich mich eines Deutschen, lang ausgestreckt auf dem Gesicht liegend, die Arme vorgestreckt, die derben Finger in den Boden gekrallt. Es riecht brandig, aber schon mischt sich dieser unsagbar abstoßende, süßliche Aasgeruch darunter; die heiße Augustsonne zersetzt schnell.
Weiter! hinauf auf die heißumstrittenen Rixheimer Höhen. Hier treffen wir auf die verlassenen Stellungen der Franzosen. Alles deutet auf einen überstürzten Rückzug. Zwischen voller Munition liegen Brotsäcke, Tornister, Kleidungsstücke in wüstem Durcheinander umher. Dazwischen umgeworfene Kochgeschirre mit halbgarem Inhalt. Der Inhalt der Brotsäcke wird schleunigst verteilt, französisches Weißbrot. Tote liegen umher, malerisch in ihren roten Hosen und blauen Röcken. Unter einem Obstbaum liegt ein großer Unteroffizier, die Hände friedlich über dem Bauch gefaltet, wie zum Mittagsschläfchen. Beim Näherkommen erhebt sich eine Wolke von Fliegen von seinem Gesicht. Gefangene kommen vorbei; sehen wenig militärisch aus.
Hinein geht es in das uns aus den Manövern so vertraute Hügelland. Enge, schlechte Wege winden sich durchs Gelände, hügelauf, hügelab. In Brubach wird Halt gemacht. Der wohlbeleibte Pfarrer, der mir den Ankauf eines Schweines vermittelt, erzählt mit behaglichem Schmunzeln, wie der französische Major, der bei ihm im Quartier lag, mitten in der Nacht wie von der Tarantel gestochen, aus dem Bett gesprungen, in die Kleider gefahren und nach einer erregten Szene mit seinem Burschen davongeritten sei.
Wir kochen ab – das frisch geschlachtete Schweinefleisch war infam hart – und rücken dann nach Habsheim ins Quartier."
Teil 4: Aus den Erinnerungen des Oberleutnants Friedrich Th. Körner.
Aus den Erinnerungen des Oberleutnants Friedrich Th. Körner. Er war Regimentsadjutant in einem badischen Regiment:
"Es ist ein Sonntag, der 9. August. Endlich brechen wir gegen 7 Uhr morgens auf. Es ist ein klarer, schöner Tag, aber schon gegen Mittag unerträglich heiß, so dass der Hardtwald, der eine Glut ohnegleichen ausstrahlt, die ersten Opfer fordert.
Am feindwärts gelegenen Rande des Waldes wird unser Stab vorgeholt. Wir stehen zum erstenmal vor einem Gefecht. Der Feind hat sich auf den Höhen südlich von Mülhausen verschanzt, das XIV. Armeekorps soll von Norden und Osten umfassend angreifen. Unsere Division wird von Osten angesetzt.
Der Hardtwald verdeckt den An- und Aufmarsch ausgezeichnet. Es wimmelt in den Waldschneisen, Wegen und Pfaden von Fußvolk und Artillerie, von Patronenwagen und Feldküchen, von Kolonnen und Reitern. In langen Zügen, unentwirrbar und doch geordnet, werden die einzelnen Kolonnen angesetzt und marschieren unermüdlich. Dabei entwickelt sich ein ungemein buntes Kriegsbild. Autos fahren an uns vorbei und Motorradfahrer, Bagagen müssen Wege freihalten, Munitionswagen wollen nach vorne.
Auch die ersten Verwundeten kommen an uns vorbei. Die Tapferen waren als vorderste Patrouillen leicht verwundet worden und lagen nun auf Bauernwagen, auf denen sie nach rückwärts zu den aufgeschlagenen Verbandsplätzen gebracht wurden.
Es war gegen 4 Uhr nachmittags als wir die ersten Kanonenschüsse hörten. Sie waren nördlich von Mülhausen gefallen, wir wussten aber nicht, ob von Freund oder Feind. Der Kanonendonner wurde immer heftiger, anscheinend stand unsere andere Division schon im lebhaften Kampfe. Denn wenn wir hier und da einen freien Ausblick aus dem Walde hatten, sahen wir aus Häusern helle Flammen hochschlagen: es waren die Gebäude auf der Napoleonsinsel, die die Franzosen heftig beschossen, um den Unseren dort den Übergang zu verwehren. So mancher tapfere Pionier und Infanterist hat hier sein Leben lassen müssen. Besonders erbittert tobte hier der Kampf in der Dunkelheit, als die Franzosen, die allmählich zurückgedrängt wurden, aus Häusern und Kellern zu schießen begannen, und oft Freund und Feind nicht zu unterscheiden war.
Inzwischen hatten sich unsere Batterien durch das Gewirr von Bäumen, von Wagen und Bagagen hindurchgearbeitet. Es war eine schwere Arbeit. Die Sechsgespanne konnten oft gar nicht Kehrt machen in den engen Waldschneisen, die Tiere waren wild und aufgeregt, und manchmal glaubte man, es käme keiner mehr heil und lebend aus diesem Waldgelände heraus.
Dabei begann es zu dunkeln. Es war halb acht Uhr geworden. Alles musste lautlos vor sich gehen, und doch durfte in diesem schwierigen Gelände die Verbindung nach rückwärts und untereinander nicht verloren werden. So war es endlich unter größten Anstrengungen und mit Aufgebot aller Kraft möglich geworden, zwei Batterien am Ostrand des Habsheimer Exerzierplatzes in Stellung zu bringen. Dieser Exerzierplatz, der im Frieden auch als Flugplatz gedient hat, lag vor uns als eine kahle Fläche, er wurde von den Franzosen, die auf den Höhen bei Rixheim und Habsheim standen, vollkommen beherrscht.
Trotzdem war der Angriff der Infanteriebrigade, die hier ihre Friedensgarnison den Franzosen wieder entreißen sollte, mustergültig. Die Infanterie trat um acht Uhr abends zum Angriff an. Im Norden tobte ein erbitterter Kampf, der Himmel war gerötet, und unablässig rollte und knatterte Kanonendonner, Gewehr- und Maschinengewehrfeuer zu uns herüber.
Nun begannen auch unsere Batterien zu sprechen und den Angriff der Infanterie zu unterstützen. Es wurde ein mörderisches Artilleriefeuer auf die Höhen gelegt, unter dessen Schutz unsere brave gelbe Brigade sprungweise Raum nach vorwärts gewann. Nun war es auch für unsere Batterien Zeit vorzugehen. In vollem Galopp folgten sie der Infanterie und beschossen immer heftiger die uns gegenüberliegenden Höhen. Bald brannte es überall. Aus Rixheim schlugen hohe Flammen empor, im Norden wurde das Ringen immer blutiger. Während die französische Artillerie uns weniger heftig antwortete, tobte der Kampf um die Napoleonsinsel immer wütender.
Die Flammen beleuchteten die vorrückenden Kolonnen gespensterhaft und grotesk, es war ein Vorwärtseilen und Laufen, ein Hin- und Herwogen, ein Rufen und Schreien, ein Brausen und Höllenlärm ohnegleichen.
Unauslöschlich und unvergesslich bleiben solche Eindrücke haften. Es sind Bilder, die sich tief in die Seele einprägen, Bilder, die man nach Jahren noch in ihrer Größe und Grauenhaftigkeit malen könnte, so wie man sie damals empfunden und erlebt hat. Auch die ersten Toten sahen wir, tapfere, brave Jungens, tüchtige Offiziere und liebe Kameraden. Sie alle hatten nicht ihr frühes Schicksal geahnt.
Während der Kampf um die Napoleonsinsel weitertobte, war es in unserem Abschnitt ruhiger geworden. Um 10 Uhr abends hatte unsere Infanterie die Höhen von Rixheim gestürmt. Auch unsere Artillerie hatte ihr Feuer eingestellt. An ein weiteres Vorrücken war in diesem Gewirr und in der stockdunklen Nacht nicht zu denken. Erst mussten die Verbände wieder geordnet, der Anschluss an die neben uns kämpfenden Truppen gesucht, Munition ergänzt, die Verwundeten geborgen werden und die durch die übergroße Anstrengungen ermüdeten Truppen ruhen. Hier konnte man auch jeden Augenblick von neuem auf den Feind stoßen, und überall umherirrende Infanteriekugeln belehrten einen, dass in so manchem Busch noch eine Rothose steckte.
Gegen 11 Uhr abends schlief der Kampf überall ein. Hier und dort lebte er während der Nacht wieder auf, einzelne Kanonenschüsse hallten in den Wäldern wieder, das Gewehrfeuer von Patrouillen und Streifkommandos kam überhaupt nicht ganz zur Ruhe.
Es brach eine kalte, regnerische Nacht herein. Sie war unvergesslich schauerlich. Langsam kehrte in die vom ersten Grauen erschütterten Menschen das Leben zurück, das Nachdenken und Erfassen alles dessen, was sie in den vergangenen Stunden gesehen hatten. Dann erst forderte die Natur ihr Recht, dann erst merkte man, dass man vollkommen erschöpft war, dass einen Durst und Hunger quälten. Und so mancher ist dort, in den nassen Wäldern, ohne Nahrung, ohne Zeltbahn, einfach neben seinem Gewehr oder seinem Geschütze niedergesunken und hat den Schlaf nicht erst lange suchen brauchen.
In den Wäldern flackerten hier und da, dem Gegner verborgen, Lagerfeuer auf. In ihrem Scheine wuchsen seltsame Gestalten empor, geheimnisvoll und grausig anzusehen. Müde und hungrig fanden sich dort Versprengte, Ermattete und Verwundete ein. Die ab und zu emporzüngelnden Flammen machten das Grauen, das auf ihren Gesichtern stand, noch verzehrender, noch leidenschaftlicher.
Sie sprachen nichts, sie sahen nichts, sondern sie grübelten, sie suchten nach einem Warum, sie wollten begreifen und wissen, ob der Mensch so viel Furchtbares wirklich erleben könne.
Und während wir diese Nacht zwischen Wachen und Halbschlaf verbringen, rollt es gespenstisch durch die Straßen von Mülhausen. Die Einwohner dürfen nicht an die Fenster. Sie dürfen nicht Zeuge sein, wie die französische Artillerie, die Kolonnen, die Bagage- und Munitionswagen nicht gen Norden oder Osten rollen, sondern wieder dahin zurück müssen, woher sie gekommen waren: nach Belfort, hinter die deutsche Grenze. Und jubelnd grüßten wir am 10. August Mülhausen als befreite Stadt.
Als es am Morgen dämmerte, marschierte unsere Infanterie und Artillerie in langen Kolonnen auf die Stadt zu. Mit Interesse sahen wir die Stellungen der französischen Geschütze und die Haufen von leeren Geschosshülsen, die sie dort abgefeuert hatten. Haufen von Brot und Hafer hatten sie uns zurückgelassen, über die sich die Unseren bald hermachten.
Im Trab ging es in die Stadt. Ich ritt mit meinem Major als erster hinein: wir zögerten zunächst, da die Straßen wie tot und verödet dalagen. Aber bald öffneten sich die Türen, und die verschüchterten Einwohner wagten sich wieder ins Freie. Sie bezeichneten zahlreiche Häuser, in denen sich noch französische Soldaten aufhielten, die sich gefangen geben wollten. Auch ein französisches Lazarett, in dem Schwerverwundete mit französischen Ärzten zurückgeblieben waren, fiel in unsere Hände."
Im weiteren Verlauf des Krieges kam das Regiment nach Baccarat an der Meurthe. Nach den schweren und verlustreichen Kämpfen um die Dörfer St. Barbe und Ménil, lag das Regiment viele Tage bei Ménil fest. Damals entstanden von einem Musketier über dieses unüberwindliche Standhalten ergreifende Verse. Er schrieb sie im Schützengraben auf einen Fetzen Papier. Sie sind so wahrhaft echt und wirken so erschütternd, weil der Tod an diesem Soldaten schon tausendmal vorbeigeschritten war. Bei Ménil hat er ihn noch verschont, anfangs November bei La Bassée hat er seine Schwingen über ihn gebreitet.
Diese Verse haben zwar nicht unmittelbar mit der Front im Sundgau zu tun, wir möchten sie aber trotzdem hier wiedergeben, weil sie so ergreifend sind und damit sie nicht in Vergessenheit geraten:
Und werde ich siebzig und werde ich mehr,
Das eine vergesse ich nimmermehr:
Im Schützengraben hinter Ménil
Da lagen wir hundert Stunden still.
Und durften nicht vorwärts, nicht ran an den Feind,
Wir hatten es nicht zu ertragen gemeint.
Und wenn die Granate uns pfeifend umbrüllt,
Mit Erdreich halb uns der Graben gefüllt,
Dann mussten wir liegen still und gebückt,
Wir haben die Gewehre fest an uns gedrückt,
Die Finger in ohnmächtiger Wut geballt,
Und dachten, kommt der Befehl nicht bald,
So brechen wir vor, komme was mag –
Und warteten doch bis zum vierten Tag.
Oft, wenn die Geduld schon zu brechen schien,
Hielt uns die eiserne Disziplin.
Wir haben gewartet hundert Stunden
Und haben geblutet aus gleich vielen Wunden.
Dass der Hunger an unseren Kräften genagt,
Danach hat keiner weiter gefragt.
Nur eins das Herz schier zerrissen uns hat,
Wenn ein Sterbender stammelnd um Wasser bat,
Und wir konnten den brennenden Durst ihm nicht stillen,
Den letzten flehenden Wunsch nicht erfüllen,
Alle Feldflaschen leer, keinen Tropfen mehr.
Und werde ich siebzig und werde ich mehr,
Das eine vergesse ich nimmermehr!
Teil 5: Bericht eines Soldaten des Badischen Fuβartillerie Regiment 14 über die erste Schlacht bei Mülhausen am 09./10. August 1914.
Der Bericht macht deutlich, daß in den Anfangstagen des Krieges noch einiges im Argen lag, bzw. sich noch einspielen musste.
"Mit Anbruch der Dunkelheit erhielt II./141 den Befehl zum Stellungswechsel. Das Bataillon sammelte sich dazu in der Kolonne zu Einem auf einer nach Osten führenden Schneise des Hartwaldes, wobei Geschütze und Fahrzeuge durcheinander kamen, da II./14 keine Gelegenheit gehabt hatte, im mobilen Bataillon zu üben. Es wurde 9 Uhr, es wurde 10 Uhr. Seitlich rückwärts brauste das Getöse der noch andauernden Schlacht, während über dem Hartwald der Vollmond auftauchte. Von hinten nach vorn rangierten sich die eintreffenden Fahrzeuge; das helle Mondlicht lies namentlich die hochbeladenen Vorrats- und Munitionswagen, auf denen sich reglementswidrig die Kanoniere gruppierten, sowie unsere prachtvollen Pferde mit den feldgrauen Fahrern auf ihren Rücken, in phantastischer Größe erscheinen. So formierte sich allmählich das Bataillon auf der Schneise, zu hinderst, dem Feinde am nächsten, die 7. Batterie.
Ja, was ist auf einmal das! Auf einer aus Richtung Napoleonsinsel gegen Nordosten führenden Waldschneise, die in spitzem Winkel auf unsere Schneise stieß, kommen versprengte und verwundete Infanteristen aus der Schlacht daher, einzeln oder in kleinen Trupps, ohne jede Führung. Mehr oder minder laut rufen sie vor sich hin: „Wir sind geschlagen! Wir sind vernichtet. Die französische Kavallerie ist hinter uns her. Überall im Walde werden wir von Franzosen verfolgt!“
„Geschlagen! Vernichtet! Von den Franzosen verfolgt! – Das ist ja nicht dumm. Und wir – schweres Feldhaubitzenbataillon – stehen tatenlos, dem Feinde abgewandt, auf der Waldschneise, anstatt unsere schweren Granaten auf die Franzosen zu werfen?“ – Wir stehen und warten. Warten immer weiter.
Die Hiobsposten der Infanteristen waren natürlich nicht ohne Wirkung auf unsere Kanoniere geblieben. Ihre Phantasie, die schon seit 8 Tagen sich dauernd mit dem Feinde beschäftigt hatte, erhielt neue Nahrung. Die wunderbarsten Gerüchte hatten schon in den Mobilmachungstagen den Weg in die Kasernen gefunden. Auf dem Anmarsch zur Schlacht nicht weniger.
Geschütz des Fuβ-AR 14
Ja, jetzt war Krieg, die Dämonen des Krieges waren entfesselt! Seit 40 Stunden ruhelos unterwegs auf dem Marsch, auf Eisenbahnfahrt, auf der Landstraße, bei Sonnenbrand, im Walde, im Gefecht! Mit weit aufgerissenen Augen sahen die schweren Artilleristen die zurücklaufenden Infanteristen und hören ihre Unglücksnachrichten. „Die muβten es doch wissen! Die kamen doch, unmittelbar aus der vordersten Linie! Unheimliche Sache!“
Wir warteten weiter auf Stellungswechsel. Gegen 11 Uhr nachts bekamen wir den Befehl an Ort und Stelle zu verbleiben. Jeder machte sich’s „bequem“, so gut er konnte. Der eine in der Zeltbahn, der andere in den Mantel gehüllt, im Straßengraben, am Waldsaum, auf oder unter den Fahrzeugen. Die Zugpferde teils im Geschirr, teils an den Fahrzeugen angebunden.
Hauptmann Meisner, Chef der 7./142, überzeugte sich zunächst davon, daß ein Zug der 170er die Sicherung am Ende der Marschkolonne übernommen hatte und daß alle Maßnahmen für die Nächtigung der Pferde getroffen waren. Dann wählte er nach Einnahme eines Schluckes Kaffee aus einer Infanterie-Feldküche und eines Stücks Kommissbrot seinen Ruhesitz für die Nacht auf der Protze3 seines vordersten Geschützes. Die Nacht ward wieder so kalt wie der Tag heiß gewesen und auf der eisenbeschlagenen Protze wärmte der Mantel nur ungenügend.
Plötzlich im Halbschlummer, gegen 2 Uhr nachts, peng! Ein Schuβ aus unmittelbarer Nähe. Der Hauptmann springt von der Protze. Der Posten am Ende der von der 7. haltenden Batterie hat den Schuβ abgegeben. Noch zieht der Rauch aus der Karabinermündung.
„Mensch, was fällt Ihnen denn ein, hier zu schieβen??“ „Herr Hauptmann da war eben ein Pferdekopf im Gebüsch“. Der Hauptmann: „Sie sind ja verrückt, wo soll denn hier ein Pferdekopf herkommen? Das wollen wir gleich mal feststellen. Kommt mal mit, da wollen wir doch gleich mal nachsehen, wo im Walde der verdächtige Pferdekopf und was drum und dran hängt, steckt“. – „Ja, wirklich Herr Hauptmann, ich habe deutlich den Pferdekopf gesehen. Gewiβ, französische Kavallerie“.
Schwere Feld-Haubitze 13 der 7. Batterie Fuβ AR 14
Der Hauptmann ruft noch: „Ach Quatsch“, springt durch den Straßengraben und geht durch das dichte Unterholz den vorderen Rand des Gehölzes ab, natürlich ohne etwas Verdächtiges zu finden. Vor lauter Schrecken hat natürlich keiner seiner Leute riskiert, ihm auf diesem „gefährlichen Gange“ zu folgen. Der Hauptmann kommt zurück zu dem wackeren Posten, um den sich eine Anzahl Kanoniere inzwischen gesammelt hatte, die mit großen Augen das Loch anstarren, das der tüchtige Obergefreite in die blaue Mondscheinluft hinein geschossen hatte. „Na, ich habe im Walde nichts von einem Pferdekopf getroffen, noch viel weniger, was drum und dran hängt.“ Der Obergefreite: „Es war aber doch ein Pferdekopf, Herr Hauptmann.“
Da, mit einem Mal, als ob der Schuβ des Obergefreiten das Alarmsignal gewesen wäre, erhebt sich im Walde ein wildes Geschieβe. Aus allen Richtungen hallt und schallt es durch den Wald. Nicht lange, so gesellt sich zu dem Gewehrschieβen noch das Tacktack deutscher Maschinengewehre. Ein Mordsspektakel. –
Der Bataillonskommandeur kommt mit seinem Stabe angesaust und ruft an der Kolonne entlang: Fertig machen! Wir spannen an. „Batterie aufgesessen“. „Batterie marsch“. Nun geht die Reise weiter feindabwärts. Auf einem breiten Waldwege rangieren wir die Bataillonsmarschkolonne und fahren wieder kehrt einer neuen Stellung zu.
Die Schützen sollen die versprengten Infanteristen gewesen sein, die in der Dunkelheit des Waldes sich gegenseitig für Feinde gehalten hatten."
6. Teil: das Schlachtfeld
Nach der ersten Schlacht um Mülhausen am 9. August 1914. Der erste tote deutsche General fiel bei Mülhausen, General Koschembahr.
Als Anfang August 1914 die Franzosen Mülhausen besetzt hatten, ging das deutsche XIV. Armeekorps mit der 28. Infanterie-Division von Breisach, und mit der 29. Infanterie-Division von Neuenburg aus gegen den Feind. Der Vormarsch durch die ausgedehnten Wälder war in der sengenden Augustsonne sehr anstrengend und beschwerlich. Man glaubte schon, den Angriff auf den 10. August verschieben zu müssen, doch erholten sich die Truppen wieder soweit, daß um 3:30h nachmittags der Befehl zum Angriff gegeben werden konnte. Das Infanterie-Regiment 113 war als Korpsreserve eingeteilt und nahm deshalb nicht am Angriff teil. Am nächsten Morgen kam plötzlich das Zeichen zum Sammeln.
Befehlsausgabe vor der Schlacht
"Das I. Batl. sammelte sich und trat den geschlossenen Marsch gegen das brennende Mülhausen an. Immer näher kam die Ringbahn. In einem Kartoffelfeld der erste deutsche gefallene Held, ein Tambour (Anm.: Trommler) vom I.R. 169. Immer mehr tote Kameraden. Einen schauerlichen Anblick bot der Bahndamm. Tote an Tote deutsche Soldaten, einzelne noch im Anschlag liegend. Bis jetzt war kein Franzose zu sehen. Aber welches Bild zeigte die andere Seite der Ringbahn! Wie gesät lagen hier die toten Franzosen mit ihren roten Hosen und dem Käppi. Einen verlassenen Patronenwagen mit zwei schönen starken Pferden bespannt nahm die 2. Kompanie an sich. Die beiden Pferde liefen bis zum Jahre 1916 an der Feldküche (...).
Wir überquerten das ganze Schlachtfeld des Vortages und empfangen so hier die ersten Eindrücke von der Furchtbarkeit eines Krieges. Das ganze Feld, soweit man sehen kann, ist mit Toten oder Verwundeten, die zum Teil nur noch schwache Lebenszeichen von sich geben, übersät. Alles Deutsche! Hier haben sich die Regimenter 169 und 170 verblutet.
Schlachtfeld vom 9./10. August 1914
Da und dort sind kleine Abteilungen in Linie zu zwei Gliedern angetreten, mitten im Felde, und werden von den überlebenden Führern, meistens Unteroffiziere und Kompaniefeldwebel – Offiziere habe ich nicht gesehen – an Hand von amtlichen Listen aufgerufen. Da liegt ein 169er, tot, das Gewehr aber fest umklammert. Ihn hat die tödliche Kugel mitten im Laufen erwischt. Einwohner der umliegenden kleinen Orte und Gehöfte sind damit beschäftigt, die gefallenen Deutschen auf Pferdekarren wegzuschaffen. In den einzelnen Häusern liegen zahllose Schwerverwundete, ohne jede ärztliche Hilfe, z. T. buchstäblich übereinander gestapelt. Man hört sie rufen, stöhnen, schreien und kann doch nicht helfen, ein Bild des Jammers und des Elends. Am stärksten ist das Feld an der Bahnlinie Mülhausen – Basel mit deutschen Toten besät. Kein Wunder. Denn die Franzosen hatten am Tage zuvor den überhöhten Bahnkörper mit Infanterie und zahlreichen Maschinengewehren bespickt und unsere Sturmlinien erst ganz nahe herankommen lassen, um alsdann ein starkes und zumeist noch flankierendes Feuer auf sie zu eröffnen.
General Koschembahr † 9. August 1914
Unweit der Straße Mülhausen – Habsheim entdecke ich einen Toten, lang ausgestreckt und auf dem Rücken liegend. Das an Rock und Beinkleidern stärker vertretene Rot lässt mich erst an einen Franzosen glauben; doch bei näherem Hinzutreten sehe ich, daß es ein deutscher General ist. Es ist General von Koschembahr, Brigadekommandeur der Regimenter 169 und 170, der erste im Weltkrieg gefallene deutsche General. Der Tote hat noch die Geländekarte in der Hand. Ich nehme sie ihm ab, lasse den Toten in eine Zeltbahn etwas abseits tragen und übergebe seine Leiche und Karte einem Trupp Leute vom 170. Regiment. An dem Leichnam habe ich in der Eile eine Schuβwunde nicht entdecken können, doch muss die Verwundung auf der Stelle tödlich gewirkt haben, da die Gesichtszüge des Generals keineswegs irgendwie entstellt waren."