In den "Baselbieter Heimatblätter" vom September 1954 fanden wir einen interessanten Artikel von Dr. H. Stohler aus Basel. Er berichtet über den Schweizer Wachtposten an der Landesgrenze zwischen Oberwil und Neuweiler und wie diese Postenstellung zu ihrem merkwürdigen Namen kam:
"Es war im ersten Weltkrieg, als im August 1914 der Donner der Kanonen aus den Schlachten um Mülhausen die Grenzbevölkerung in Atem hielt. Da zog unser Bataillon 53 im Eilmarsch aus dem oberen Baselbiet ins bedrohte Leimental hinab und löste in finsterer nacht die Landsturmsoldaten ab, die längs der Schweizer Grenze rote Fähnchen angebracht hatten, aber für eine wirksame Abwehr viel zu schwach an Zahl waren. Rasch verteilten sich unsere Mannschaften auf die zugewiesenen Grenzabschnitte, organisierten einen scharfen Wachdienst und hoben tiefe Schützengräben aus.
Dabei war von besonderer militärischer Wichtigkeit der oben erwähnte einsame Grenzübergang zwischen Oberwil und Neuweiler. Man schickte daher eine ganze Kompagnie dort hinauf, die den Weg und das anschließende freie Gelände mit Wall und Graben sperrte und im dahinter liegenden Wald ein gegen Fliegersicht geschütztes Lager baute.
In den ersten Kriegswochen glaubte jedermann bestimmt, dass die Kämpfe bei der modernen Waffenwirkung unmöglich lange andauern könnten. Die Soldaten hatten frohen Mut und hofften, bis Ende Oktober heimkehren zu können. Noch nicht durch den eintönigen Dienstbetrieb abgestumpft, freuten sie sich daran, das Soldatenleben zu verschönern und Herz und Gemüt mitsprechen zu lassen.
Ich sehe das Eingangstor zum damals errichteten Waldlager noch vor mir, wie wenn es erst gestern gewesen wäre. Auserlesene, von Natur gekrümmte Efeustämme bildeten einen hohen Rundbogen und stellten darauf die schlichten Worte "PRO PATRIA" dar, die dem Eintretenden kund taten, wie unsere Soldaten dachten und fühlten. Eine grosse Tafel im Innern des Lagers legte Zeugnis von der Dienstauffassung der Mannschaft ab. Sie zeigte das in jenen Tagen geprägte Wortspiel:
"Was Wille will und Sprecher spricht,
das schaffe still und murre nicht."
(Anm.: General Ulrich Wille war kommandierender General der Schweizer Armee (gewählt am 3. August 1914!), Th. Sprecher von Bernegg der Generalstabschef.)
Der vorgeschobene Grenzposten bekam häufig Besuch von hohen Offizieren, die nicht selten mit ihren Abänderungsvorschlägen die Anordnungen des Kompagnie-Kommandanten durchkreuzten und seine Arbeit erschwerten. Ihnen galt die mit
"Stoβseufzer eines geplagten Kp. Kdt."
überschriebene Tafel, auf der die Worte von Friedrich Schiller zu lesen waren:
"Raum für alle hat die Erde,
was verfolgst du meine Herde?"
General Ulrich Wille, kommandierender General der Schweizer Armee
Th. Sprecher von Bernegg, Generalstabschef
Da der Krieg der Baselbieter Grenze fern blieb, hätte der Wachtdienst am Neuweilerweg für die Soldaten eher eine Erholung als eine Anspannung der Kräfte bedeutet. Allein, es mangelte dort oben das lebenswichtige Element, das in den heissen Tagen besonders geschätzte Wasser. Der einzige schlechte Verbindungsweg nach Oberwil führte auf einer grösseren Strecke durch damals noch sumpfiges Gelände und war in wenigen Tagen für Wagen unpassierbar.
Es kostete viel Mühe und manchen Schweisstropfen bis das bodenlose Sumpfgebiet mit kräftigen Knüppeln überbrückt und einigermassen fahrbar war. Nun führte man das ersehnte Nass in einem grossen Spritzenwagen, der seltsamerweise das Hoheitszeichen der fernen Limmatstadt trug und in Friedenszeiten zum Besprengen der Zürcher Strassen diente, an die Grenze hinauf. Schon aus der Ferne hörte man das heftige Peitschenknallen und die schrillen Rufe der Trainsoldaten, die ihre Gespanne zu höchster Leistung anfeuerten, wenn der mit zwölf ausgeruhten Pferden bewerkstelligte Wassertransport nahte.
Das zugeführte Wasser reichte freilich für die zweihundert Mann starke Kompanie nicht aus. Man musste damit sehr sparsam haushalten, und jedes Waschen wurde streng untersagt. Kein Wunder, dass die Gesichter der Soldaten allmählich eine dunkle Farbe annahmen, die immer mehr in ein Schwarz überging, woran die heisse Augustsonne nur zum kleinen Teil schuld trug. Nach ihrem Aussehen hätte die Mannschaft aus dem dunklen Afrika stammen können. Der Kompagniespassvogel war um einen zutreffenden Namen nicht verlegen. Er bezeichnete den Grenzposten kurzerhand als das "Negerdorf". Daraus entstand der Flurname "s' Negerdörfli", der sich in Neuweiler bald einbürgerte.
Ein Lager im Wald an der Grenze
Das Negerdorf im Spätherbst und Winter
Nach einer längeren Verlegung des Standortes in die Umgebung von Bern kehrte unser Bataillon nach Oberwil und an die Elsässer Grenze zurück, um dort die ostschweizer Truppen abzulösen. Inzwischen hatte man die Besatzung des Negerdorfes verkleinert und mir wurde die interessante Aufgabe zugewiesen, dort oben mit meinem Zug Wache zu halten.
Infolge der ausgiebigen spätherbstlichen Regengüsse machte das Leimental seinem Namen alle Ehre, aber trotz dem unglaublichen Morast, der den Verkehr längs der Grenze erschwerte, waren es geruhsame und schöne Tage: denn jetzt wagte sich kein "Rösslispiel", wie die berittenen Stäbe in der bilderreichen Soldatensprache hiessen, bis zur Grenze hinauf. Selbst unsere forsche Kavallerie, von der man sagte, sie komme überall durch, hatte ihre Patrouillenritte längs der Grenze eingestellt und diese Aufgabe den Sandhasen oder, was in unserem Falle eher zutraf, den Dreckspatzen überlassen müssen. Wir Infanteristen kamen immer noch durch und waren stolz darauf, unsere Soldatenpflichten auf dem einsamen Grenzposten ohne jegliche Bevormundung treu und unentwegt erfüllen zu können.
Für den "König des Negerdorfes" hatten Glarner Truppen eine kleine regensichere Hütte erbaut und ihr Äusseres sinnvoll geschmückt. Aus dem reichlich vorhandenen Lehm hatte ein begeisterter Bildhauer die Büsten von General Wille und Generalstabschef von Sprecher modelliert und zu beiden Seiten eines weisen Kreuzes im roten Feld angebracht, das aus leuchtenden Waldbeeren bestand. Über dem Schweizerkreuz und den bewährten Führern unserer Armee schwebte, ebenfalls aus Lehm geschaffen, unsere Mutter Helvetia, die Beschützer der heimatlichen Grenzen segnend.
Leider wurden die schönen Lehmplastiken von den Unbilden der Witterung mitgenommen und zeigten Spuren des Alters. Auch der Schutzpatron der Glarner, der heilige Fridolin mit seinem langen Pilgerstab, den eine Künstlerhand in das Giebeldreieck hinein gemalt hatte, verblasste in der rauhen Herbstluft. Unversehrt dagegen blieb eine Inschrift die kundtat, dass die Hütte von der III. Kompagnie des Glarner Bataillons 85 erbaut worden war.
Wohl der gleiche Künstler, der die Waldhütte mit der Helvetia und den höchsten Führern unserer Armee geschmückt hatte, schuf zur Unterhaltung seiner Kameraden fünf weitere Plastiken, die der östlichen Ecke der Waldlichtung hinter dem Negerdorf den Namen Bajonettfechtplatz eintrugen. Er formte aus Lehm einzelne Vertreter der kriegsführenden Mächte, auf Seiten der Entente einen Franzosen, Engländer und Japaner, auf Seiten der Zentralmächte einen Deutschen und einen Österreicher, steckte sie in irgendwo aufgetriebene passende Uniformen und gab seinen Gestalten naturgetreu die Haltung, die sie beim Bajonettfechten einnehmen mussten. Diese Bajonettfechter sind trotz Regen und Schnee Monate hindurch intakt geblieben und bildeten, weil ausserhalb der Sperrzone aufgestellt, auch für viele Zivilpersonen eine willkommene Attraktion.
Helvetiabüste und Soldaten, die im Leimental von einem Füsilier des Batl. 85 modeliert wurden. Die Uniformen dazu, mit Stroh ausgestopft, wurden bei Basler Trödlern requiriert.
Viel Spass machte ferner der "Bärengraben" weit draussen im Bänkenspitz, der bei der Schweiz verblieben ist, obwohl er nur als schmaler Waldstreifen einen Kilometer weit in den Sundgau hinaus ragt. Der Bärengraben unserer Soldaten bestand aus einer grossen kreisrunden Vertiefung mit einem Baumstamm in der Mitte, an den sich ein naturgetreu modelliertes Berner Wappentier anklammerte.
Im Bärengraben (Leimental) an der Grenze
Der Grenzdienst im Negerdorf.
Während seiner Freizeit weilte der Kommandant des Negerdorfes meistens im Hauptraum der Kommandohütte, deren Äusseres wir oben beschrieben haben. Wie traulich dieser Raum, dessen Wände mit den Bildern unserer Armeeführer geschmückt waren, bei Nacht ausgesehen hat, zeigt eine Federzeichnung aus dem Hüttenbuch, auf das wir unten zurück kommen werden.
Eine mächtige Petrollampe an der Decke spendete die langen Winternächte hindurch das Licht und diente zugleich als Ofen, der die ganze Hütte angenehm erwärmte, sofern Petrol erhältlich war. Zur Zeit meines Wachtdienstes ging dieses aus, und Ersatz konnte weder durch die Etappe noch in Oberwil aufgetrieben werden. Rasch entschlossen beorderte ich einige Soldaten auf "Petrolpatrouille" nach Basel. Sie hatten Erfolg und kamen anstandslos mit Bierflaschen unter den Mänteln zurück, die das Petrol enthielten, das ihnen meine Frau verschafft hatte.
Ohne dieses Petrol hätten die nächtlichen Patrouillengänge unterbleiben müssen, bei denen Sturmlaternen unerlässlich waren. Die Kavalleristen hatten den einzigen schmalen Waldfussweg längs der Grenze als Lehmgraben mit tiefen Löchern zurück gelassen, die bis oben mit Regenwasser gefüllt waren. Trotz der weithin leuchtenden Laterne versank man zuweilen in solche Löcher und hatte Mühe, sich gegenseitig heraus zu helfen.
Kehrte man von einem nächtlichen Patrouillengang zurück und war bis über den Ceinturon hinauf mit Lehm bepflastert, dann bedeutete das trauliche, von der heimeligen Petrollampe erhellte und erwärmte Wachstübchen einen Genuss, wie man sich einen höheren kaum denken konnte.
Rätselhaft erschien es auch, woher man sich auf dem abgelegenen Grenzposten etwas Milch verschaffen sollte, doch liess sich dieses Problem höchst einfach lösen. Die Grenze war wohl für die Menschen hermetisch verschlossen, doch konnte uns niemand einen Vorwurf machen, wenn wir über die Grenzepfähle hinweg mit den Neuweilern ein Abkommen trafen. Sie brachten ihre Milch zum Negerdorf hinauf und erhielten von uns gutes Schweizergeld, womit beiden Teilen gedient war.
Eines Tages kamen meine Basler Freunde zu Besuch und brachten in ihren Rucksäcken die noch fehlende Hüttenausstattung, um damit dem kahlen Offiziersraum einen wohnlichen Einschlag zu geben. Sie vergassen auch nicht, ein kleines Hüttenbuch mitzunehmen, das die einsamen Kommandanten des Negerdorfes dazu anregen sollte, ihre Gedanken und Gefühle in Versen Ausdruck zu geben. Das geschah bis Ende Januar 1915. Dann folgte als letzte Eintragung:
"Nachdem am 6. Februar 15 die Mannschaftshütte im Negerdorf ein Raub der Flammen geworden ist, ist die Offiziershütte Mannschaftslokal geworden und das Idyll im Negerdorf hat für Offiziere aufgehört. Das Buch geht deshalb mit kameradschaftlichem Gruss an den Urheber.
Oberwil, 13.2.15, J.R. Spinnler, Oblt. I/ 67."
Aus dem Hüttenbuch des Negerdorfes.
Besser als prosaische Worte orientieren uns einige Verse aus dem Hüttenbuch des Negerdorfes über das Denken und Fühlen der dortigen Wachtkommandanten, die verschiedensten Berufen angehörten und als Auszüger weniger als 32 Jahre zählten. Wir beginnen die kleine Auslese mit
Erinnerung an die Grenzwache 11. - 17. Dezember 1914:
1.
Der Regen fällt in Strömen,
Durchnässt sind alle Leut.
Nichts macht das unseren Söhnen,
Denn fröhlich sind sie heut.
2.
Drauss auf dem Wall da schreitet
Die Schildwach auf und ab,
Sie wird wohl nicht beneidet,
Der zuverläss'ge Knab.
3.
Sein Auge blickt nach Deutschland,
Stolz ist er ob der Ehr
Zu wachen an des Landes Rand,
Zu sein die Kraft der Wehr.
4.
S'ist Geist der Siebenundsechzig,
Der's Negerdorf regiert.
Drum sind wir auch so heftig
Als Grenzwach aufmarschiert.
5. Drum woll'n wir stets gedenken
Dem lieb Idyll im Wald.
Mag es der Zufall lenken.
Zu wachen hier recht bald.
Es gibt auch Beiträge, die in unverblümter derber Soldatensprache abgefasst sind. So lautet einer:
Weder Kartenspiel noch Weib
Hab ich hier zum Zeitvertreib
Hab genug zu tun auf Posten,
Lass deshalb die Liebe rosten,
Bis ich wieder frei wird' sein.
Dann - erst dann - bei Bier und Wein
Darf ich in der freien Zeit
Widmen mich dem Spiel und Wein.
Strasse: Oberwil - Neuweiler. 19./21. 11.1914, Lieut. Krüger, II/53.
An anderer Stelle sind mit Lehm bespritzte Soldaten gezeichnet, die sich durch einen Schlammweg hindurcharbeiten. Darunter steht geschrieben:
Ein Stimmungsbild, bei dem die Stimmung flöten ging.
Splitepitsch Spagettiregen
Chocolad' auf allen Wegen
Drin zu stapfen so zu Fuss
Ist entschieden - Hochgenuss!
Vom 9. bis 11. Jan. 1915 erlebt und empfunden. Spinnler, Oblt. I/67
Weihnachten besingt ein welscher Wachtmeister mit folgenden Versen:
Noël 1914
Noël sur la terre,
derrière nos frontières:
Mais au-delà de celles-ci
que va-t-il se faire?
Minuit chrétien,
Fils de l'Helvétie un lieu vous tient,
un devoir sacré vous rapelle
jour et nuit à votre poste de garde, vous uni, comme les versés du poète le disent:
"un pour tous . . .
tous pour un" . . .
Là notre plus noble pensée, notre devise:
Ta liberté, chère patrie
"notre Suisse" . . .
Einfacher legt ein Deutschschweizer seine Weihnachtsgedanken dar. Wir geben hier nur ein Bruchstück daraus:
Ich steh' hier an der Grenze
und halte treue Wacht
Und denk an meine Lieben
In eisig-kalter Nacht.
Noch nie fühlt ich so einsam
So traurig mich im Feld
Als heut' wo's liebe Christkind
zu Hause Einkehr hält.
Wie jubeln jetzt die Kinder
Beim hellen Lichterbaum,
Und ihres fernen Vaters
Gedenken sie wohl kaum.
Doch ihre Mutter seh' ich.
Ihr sinnend ernster Blick
Zeigt, dass sie mein gedenket
Trotz all dem Weihnachtsglück.
Ich seh's, wie's dich betrübet,
Dass ich nicht bei euch bin.
Doch geb' dich nur zufrieden.
Mein Los ist nicht so schlimm.
Zum Abschluss noch ein reizendes Gedicht:
Sass einstmals am Abend
Bei seligem Traum,
In diesem so stillen
Gar heimlichen Raum.
Sass lange noch wachend
Beim Lampenschein;
Da nahte sich lachend
Ein - Mägdelein.
Mit zierlichen Füssen
Schon trippelt's heran
Spitzt's Mündchen zum Küssen,
Setzt zagend dann an . . .
Da rief denn so einer:
"Wache heraus !"
Und mit dem Träumen
War's endgüldig aus.
Und als er zurückkam,
Der dies erdacht,
Da haben die Mäuse
Ihn ausgelacht.
Die sind gesprungen
Und haben gepipt:
Hier wird halt eben
Nur "solo" geliebt!!!
Oberwil - Neuweiler H.G. IV/67, 4. Zug
Zeichnung: Das Innere der Kommandohütte des Negerdorfes. "In stiller nächtlicher Stunde" auf dem Offiziersposten Oberwil - Neuweiler gezeichnet. 26./28. Nov. 1914 Séquin Lieut. IV/67.
An der Grenze: Blick Richtung Negerdorf und Oberwil, rechts der Bajonettfechtplatz.
Grenzsteine beim Negerdorf