In einem alten Buch, welches wir kürzlich antiquarisch erwerben konnten, befindet sich der Bericht des Bürgers M. Kastler aus Sulzern (heute: Soultzeren). In dem Bericht beschreibt er den Kriegsbeginn im Münstertal und die Ereignisse in Sulzern, bis zu seiner Evakuierung nach Gerardmer im April 1915.
Unter anderem berichtet er von einem Artillerie- Angriff am 25. März 1915 auf das Dorf, bei dem es drei Tote gab. Auch schreibt er, dass die brennenden Häuser in dieser Zeit nicht mehr gelöscht wurden.
Obwohl sich diese Ereignisse nicht im Sundgau abspielten, möchten wir den Text hier aufnehmen, da es sich u. E. um ein wertvolles historisches Dokument handelt. Insbesondere könnten wir uns vorstellen, dass dieser Bericht für historisch interessierte Einwohner von Soultzeren von Bedeutung sein kann. Die Bilder wurden aus unserem Archiv beigefügt.
Die in dem Bericht vorkommenden Personennamen Schmidt–Magey, Rohner und Graff sind im aktuellen Telefonbuch von Soultzeren noch heute vorhanden.
Aus dem Vorwort des Verfassers:
"Eines Tages führte mich der Zufall mit einem Sulzerner Bürger zusammen, der das Schicksal seines Heimatstädtchens während der ersten Kriegsmonate in einem Tagebuch aufgezeichnet hatte. Der Verfasser der Handschrift, Herr M. Kastler, hat früher sicher nie daran gedacht, sich einmal als Kriegsschriftsteller zu betätigen. Aber seine Schilderungen zeugen von solcher Frische und Farbigkeit der Anschauungen, dass ich dem Wunsche des Verfassers, das Wesentliche seines Tagebuches in meine Kriegserinnerungen aufzunehmen, gerne nachgekommen bin. Von kleinen Änderungen abgesehen, ist der Stil der Urschrift fast durchweg beibehalten.":
"Es war Anfang Augst 1914. In dem lieblich gelegenen Vogesendorfe Sulzern war, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, der Mobilmachungsbefehl angeschlagen worden. Geschäftig liefen die Einwohner hin und her, denn fast in jeder Familie wurde ein Mitglied von der Einberufung betroffen. Da galt es, die kurze Frist auszunützen, um Familienangelegenheiten zu ordnen und die Abziehenden mit den nötigen Sachen zu versehen oder von Freunden Abschied zu nehmen. Bei der Ruhebank unterhalb des Friedhofes, wo sich der alte Weg nach Stoβweier (Anm.: heute Stosswihr) von der neuen Schluchtstraβe abzweigt, wandten sich die Blicke der Scheidenden noch einmal zurück nach den friedlichen Heimstätten und en kleinen Gassen. Da wurden Frau und Kind, Vater und Mutter noch einmal geküsst, a drückte man sich noch einmal, vielleicht zum letzten Male herzlich die Hand. An eine lange Kriegsdauer wollte keiner glauben. Das trug wesentlich zur Hebung der Stimmung bei, und bald hörten die Abschiedstränen auf zu flieβen. Es ahnte ja keiner, daβ diese sonnigen Höhen, diese lieblichen Täler er Schauplatz so vieler blutigen Kämpfe, so vieler Heldentaten, aber auch das Grab so vieler tapferer Krieger werden sollten!
Im Dorfe standen die Fabriken still: Werkführer, Meister, Schlosser, Maschinenwärter und Arbeiter waren mobilisiert. Ehe man weiter arbeiten konnte, muβte er Betrieb neu organisiert werden. Die zurückgebliebenen Frauen und Mädchen hatten aber vorerst noch viel mit den unterbrochenen Feldarbeiten zu tun, und so blieben die meisten Betriebe einstweilen stille stehen.
Später konnten sie, von jeder Verkehrsverbindung abgeschlossen, nicht mehr aufgenommen werden. Die Zollbehörde im Zollhaus am Eichwäldle zog sich zurück und oberhalb des Dorfes in der Insel bei der Neubruck (Anm: heute findet man dort die Straßennamen „Rue Insel“ und „Rue Neubruck“ ), wo sich die Straßen kreuzen, wurden Hindernisse gebaut.
Am 6. August 1914 erfolgte der erste französische Angriff auf Sulzern. Eine etwa 40 Mann starke Abteilung kam die Schluchtstraβe entlang aus dem Altenbergwalde herunter und wurde von der dort verschanzten deutschen Infanterie blutig abgewiesen. Ein Leutnant war gefallen, und 15 weitere Mann teils tot, teils kampfunfähig. In der Nacht wurden die Toten und Verwundeten nach Stoβweier heruntergebracht. Der Vollmond warf sein magisches Licht auf die groβartige Landschaft und die schaurige Szene, die sie belebte.
Es war am 14. August 1914. Der Postdienst war noch in Betrieb. Wir empfingen noch Briefe und Sendungen von unsern abwesenden Familienangehörigen, aber das Telegramm, das ich nachmittags an meine abwesende Frau aufgab, war wohl die letzte Drahtnachricht eines Zivilisten, die von Sulzern abging. Es verlautete, daβ ein französischer Überfall erwartet werde. Die Bevölkerung war deshalb sehr beunruhigt. Die meisten hatten ihre Kleider und Wertsachen verpackt und in die Keller gestellt, da man befürchtete, Sulzern könne in Brand geschossen werden.
Gegen sieben Uhr abends fingen plötzlich die Kanonen zu donnern an. Die Einwohner flüchteten in die Keller, und nur sehr wenige sahen, was vorging. Man hörte heftiges Infanteriefeuer, das immer näher kam. In der Luft war ein eigentümliches Sausen, das von den unzähligen Flintenkugeln herrührte, die von den Franzosen abgeschossen wurden. Nach der Heftigkeit des Schieβens zu urteilen, hätte man annehmen können, daβ eine große Schlacht im Gange sei. In Wirklichkeit richtete sich der Angriff aber nur gegen eine Handvoll deutscher Solaten, die hier zehn Tage lang den Franzosen den Durchgang gewehrt hatten.
Die Franzosen schossen im Vorrücken auf jedes Grasbüschel und jeden Lehmhügel, da die Deutschen, wie sie mir erklärten, wegen der feldgrauen Uniform im Felde nicht zu erkennen seien.
Bei den Deutschen war ein Infanterist, der trotz der Warnung seiner Kameraden an der Winkelbrücke Stellung nahm, um die in Übermacht heranrückenden Franzosen aufzuhalten. Er feuerte mit einer Schnelligkeit, als hätte er allein die Aufgabe gehabt, die feindliche Offensive zum Stillstand zu bringen. Als er sich schließlich umsah, waren seine Kameraden in einem Hohlwege verschwunden, und da der Mann die Gegend nicht kannte, verlief er sich in einer Sackgasse, an deren Ende eine Scheune stand. Der Besitzer des Hauses riet ihm, durch die Hintertür das Freie zu gewinnen. Aber drauβen traf den Mann eine Kugel, und der Blutverlust zwang ihn in die Scheune zurück. Inzwischen kamen die Franzosen näher. Sie durchsuchten alle Winkel des Hauses und drangen auch in die Scheune, aus der sie bald darauf mit blutgeröteten Bajonetten wieder hervorkamen. Als der Eigentümer des Hauses durch das Scheunentor blickte, sah er den Soldaten in einer Blutlache auf dem Rücken liegen, und er glaubte nicht anders, als daβ er einen Toten vor sich hätte. In der Nacht hatte der Bauer noch einmal in der Scheune zu tun. Wie erschrak er, als er den Totgeglaubten auf einem Karren sitzen sah. In den Händen hielt er einen zerlesenen Brief, und mit der Tinte mischte sich das Blut. „Ihr bleibt recht lange“ flüsterte er; „die Franzosen haben mich gestochen, daβ ich sterben soll.“ Der Bauer gab dem Sterbenden zu trinken und bettete ihn auf das weiche Heu. Aber alle Hilfe kam zu spät. Ein paarmal noch öffnete der Soldat seine Lippen, und leise klang es durch die Stille: „Mutter, liebe Mutter!....“
Die Franzosen stellten die Einnahme von Sulzern als eine große Waffentat hin, während es sich in Wirklichkeit doch nur um ein Vorpostengefecht handelte. Immerhin war Sulzern nun in französischer Hand. Die Franzosen behaupteten, daβ aus dem Kirchturm auf sie geschossen worden sei. Es konnte aber nachgewiesen werden, daβ die Kirche während des Überfalls geschlossen gewesen war.
Auf dem aus breiten Sandsteinen bestehenden Geländer der Brücke muβte der Bürgermeister einige Male hin und her gehen, um zu beweisen, daβ die Brücke minenfrei war. Der Bürgermeisterposten war jetzt überhaupt keine beneidenswerte Stellung. Auf den beiden Schulhäusern und dem Wohnhause der Fabrik flatterten bald Rotekreuzfahnen, da die Gebäude zum Empfang von Verwundeten bereitgestellt waren. Die Verwundeten sollten übrigens nach dem ersten Verbande rasch nach der Schlucht und von da nach Gerardmer überführt werden.
Auf der Dorfstraße begann unterdessen reges militärisches Leben: die Straße entlang war zwischen großen Steinen, auf denen dampfende Kochgeschirre standen, Feuer angelegt. Die Franzosen kochten ihre Fleischsuppe. Aus den naheliegenden Gärten wurden Möhren, Lauch und Kraut geholt, denn die Franzosen liebten solche Beilage zur Suppe. Nachher wurde Kaffee gekocht, und dazu aus jedem Hause die Kaffeemühlen geliehen. Wo keine Kaffeemühlen zu haben waren, wurden die Bohnen mit Steinen oder mit einem Hammer zerkleinert. An gutem Brot war kein Mangel, nur war es manchmal zu alt und zu hart. In diesem Falle wärmen es die Soldaten auf, wodurch es wieder weich wird. Auch Konservenfleisch in Büchsen von 250 und 300 Gramm führten die Franzosen reichlich mit. Die Offiziere hatten die besseren Häuser belegt. Sie beanspruchten außer dem Schlafzimmer noch das Esszimmer und die Küche, wo die Köche und Burschen hantierten, die Köche für die Zubereitung der Speisen, die Burschen für die persönliche Bedienung der Herren. Für die Bewohner blieb oft recht wenig Platz übrig.
Nachts um zwei Uhr kamen weitere französische Abteilungen mit Mauleseln an, die das 13. Alpenjäger-Regiment mit Munition und Proviant versorgten. Das Dorf war überfüllt! Andern Tags kamen in der Nacht noch weitere Truppen. Meine Wohnung wurde förmlich damit vollgestopft: im Hausgang lagen sie immer zwei Mann nebeneinander auf den harten Dielen. Da sich der Bürgermeister nicht mehr zu helfen wusste, bat er den Pfarrer um die Erlaubnis zur Öffnung der Kirche, um darin einen Teil der Einquartierung unterzubringen. So kam es, daβ die Kirche einige Tage mit Franzosen belegt worden ist. Pfarrer und Bürgermeister mussten später ein Schriftstück unterschreiben, worin sie bekannten, dass die Kirche dem Militär freiwillig zur Verfügung gestellt worden und dass darin kein Unfug getrieben worden sei.
Der Durchmarsch der französischen Truppen dauerte nur wenige Tage an. Um den 25. August machte sich dann wieder eine Rückwärtsbewegung bemerkbar. Das Automobil der Fabrik wurde für den General Bataille requiriert, der sein Quartier in Münster aufgeschlagen hatte. Aber es brachte ihm kein Glück, denn einige Tage später wurde das Auto von einer deutschen Granate getroffen, wobei der General den Tod fand.
Ende August wurde Sulzern von Teilen des 152. Französischen Infanterie-Regiments besetzt, der Kommandant hatte sein Quartier im Hotel Ruland-Völckel aufgeschlagen. Die Fabrik erhielt eine Kompanie Genie-Truppen (Anm.: Pioniere). Meine Wohnung wurde von dem Kapitän und zwei Offizieren belegt. Küche und Esszimmer mussten ihnen ganz überlassen werden; mir blieb nur noch das Schlafzimmer übrig. Die Kompanie lagerte im Fabrikmagazin, während das Kompanie-Bureau im Herrenhause untergebracht war, auf dem noch die Fahne der Genfer Konvention flatterte. Das Quartier, Holz und Licht mussten umsonst geliefert werden.
Die Genietruppe baute Schanzen auf den umliegenden Höhen. Dabei wurden viele Wald- und Obstbäume gefällt. Die Gemeinde musste fast täglich 20 bis 30 Mann zur Mithilfe stellen. Eines Morgens begegnete ich dem Kapitän, der auf der Veranda des Hauses die eingelaufenen Briefsachen las. Er rief mich zu sich und eröffnete mir, dass ihm soeben mitgeteilt sei, dass die deutsche Mark in Zukunft nur 1 Franc zu gelten habe, ferner, dass die Franzosen von der Bevölkerung verraten würden, sodass er zu seiner Sicherheit eine Haussuchung bei mir vornehmen lassen müsse. Alle Zimmer wurden durchsucht, alle Schubladen durchstöbert, Telephon und elektrische Leitungen vom Keller bis zum Speicher verfolgt, ohne dass etwas Verdächtiges gefunden worden wäre, außer meinen Touristenkarten von Elsaβ-Lothringen, die mir ohne Entgelt weggenommen wurden.
In Sulzern lagerten große Heuvorräte, die sich die Franzosen sogleich sicherten. 100 Kilo wurden mit 8,50 Frs. = 6,80 Mark bezahlt. Der Zahlmeister wollte mir das requirierte Heu mit deutschem Geld „au pair“ bezahlen, also die Mark zu 1,25 Fr. gerechnet; ich sagte ihm aber, was mir der Kapitän mitgeteilt hatte. Nach Rücksprache mit dem Kapitän kam der Bescheid, dass die Einwohner von Sulzern deutsches Geld noch weiter zu 1,25 Fr. für die Mark annehmen müssten; der genannte Kurs von 1 Fr. sei nur für die Franzosen und die Banken bestimmt. Ich wollte mir später diese Lage des Sulzerner Geldmarktes zu Nutzen machen, indem ich zu diesem Zweck nach und nach 800 Mark deutsches Geld „au pair“ in französisches umwechselte. In Gerardmer, wo viel deutsches Geld kursierte, wollte ich das Geld eintauschen. Aber da kam ich schön an: nehmen wollten die Franzosen das deutsche Geld schon zu 1 Fr. für die Mark, aber geben wollten sie es nicht mehr zu diesem Kurse. Man forderte mir 122 ½ Frs. Für 100 Mark. Mit meinem Bankgeschäft war es also nichts, denn für 20 Mark pro Mille lohnte sich die schwierige Reise und das Risiko nicht.
Frühmorgens am 3. September zogen die Franzosen ab, die Schluchtstraβe hinauf, anscheinend um ihren Rückzug weiter fortzusetzen. Die Einwohner atmeten wieder auf. Die Freiheit, ohne die Franzosen, war doch köstlicher! Zwischen 3 und 4 Uhr nachmittags hörte ich den Galopp eines Pferdes die Dorfstraße hinaufkommen. Ich war gerade im Garten mit Bohnenpflücken beschäftigt und sah, wie ein deutscher Dragoneroffizier, den Karabiner schuβbereit in der Hand, durchritt. Bei meinem Anblick machte er mit dem Karabiner eine sekundenlange Bewegung gegen mich, doch ebenso rasch überzeugte er sich, dass ich kein Feind war. Der Mann ritt, unserer Meinung nach, dem sicheren Tod entgegen, denn dahinten mussten noch französische Posten stehen. Zu unserer Verwunderung kam er nach einiger Zeit mit Beute beladen wieder zurück. Hinter meinem Hause hielt er an und erzählte, dass er da oben abgestiegen und in eine Scheune eingedrungen sei, wo er drei Franzosen schlafend gefunden habe. Er hätte sie töten können, meinte er, aber einen schlafenden Feind töten, das tue er nicht. Ein Mann aus dem Dorf führte ihm das erbeutete Fahrrad nach, über dem Hals seines Pferdes lag ein französischer Offiziersmantel und ein Offizierssäbel. Ein Liter Wein zur Erfrischung war gleich zur Stelle. Dann schieden wir mit herzlichem Händedruck.
Am Nachmittage des 4. September kamen die Franzosen wieder zurück. Einem Fuβpfade folgend, gingen sie in langer Kette, mit zwei bis drei Schritt Abstand, quer über das Feld nach dem Hohrodberg hinauf. Es war ein heiβer Tag, und die Soldaten litten sehr unter der Hitze und unter der Last ihrer Mäntel und Tornister. Kaum waren diese Truppen vorüber, als es zu donnern und zu krachen anfing. Alles flüchtete in die Keller, und auch da bekam man jedesmal einen Ruck, wenn eine Granate platzte. Es wurde deutscherseits mit Kanonen mittleren Kalibers nach Sulzern geschossen! Kaum fünfzig Schritt von meiner Wohnung entfernt platzten zwei Granaten, im sogenannten „Schleif“ platzten über zwanzig, im Dorf selbst noch weitere acht Granaten. Die Einwohner glaubten, dass ihre letzte Stunde gekommen sei, und viele lagen in den Kellern auf den Knien und beteten. Nach einer halben Stunde, die uns wie eine Ewigkeit vorgekommen war, hörte die Beschieβung auf. Als wir uns dann aus dem Keller herauswagten, hörten wir von Münster herauf heftiges Infanteriefeuer. Später vernahm ich, dass an diesem Tage am Mönchsberg bei Münster ein heftiger Kampf stattgefunden habe. In Sulzern hatte die Beschieβung wunderbarerweise keinen Schaden verursacht.
Am 5. September 1914 wurde die Stadt Münster wieder von deutschen Truppen besetzt und am 6. September schossen die Franzosen einige Granaten auf das dortige Spital. Am 5. September kamen die Genie-Truppen, die uns am 3. des Monats verlassen hatten, wieder zu mir ins Quartier. Sie sagten, dass sie oben im Bannwalde versteckt gelegen und auf einen deutschen Angriff gewartet hätten. Dann wurde Sulzern durch die französischen Truppen noch weiter verschanzt. Mit der Bevölkerung von Sulzern kamen die Franzosen anscheinend ganz gut aus, obwohl die meisten Einwohner der französischen Sprache unkundig waren. Etwaige Ungehörigkeiten konnten durch Vermittlung des Bürgermeisters im Hauptquartier zur Anzeige gebracht werden. Dort war auch ein Dolmetscher, der die Leute anhörte. Nach 8 Uhr abends durfte kein Licht mehr in den Wohnungen zu sehen sein; in der Nacht war das Ausgehen mit Licht streng verboten. Infolgedessen war das Dorf manche Nacht in undurchdringliche Finsternis gehüllt.
Obwohl die Landwirte für ihren Käse einen flotten Absatz bei den Franzosen fanden, konnten sie sich am wenigsten mit ihnen befreunden. Abgesehen davon, dass jede Familie Vater oder Sohn auf der deutschen Seite stehen hatte, fand ihre Abneigung neue Nahrung in den nun wöchentlich stattfindenden Requisitionen von Vieh und Heu, das zur Fütterung über den Winter dienen sollte. Einmal wurde der Bürgermeister wegen eines Miβverständnisses des Dolmetschers 24 Stunden auf die Wache gesperrt, wo er die Nacht auf dem Stroh zubringen musste. Da er herzleidend war, verschlimmerte sich sein Zustand so, dass er einige Zeit das Bett hüten musste.
Erwähnenswert ist noch, dass am 11. September ein schweres Gewitter ausbrach, wie ich noch selten eins erlebt habe. Dabei wurden drei Franzosen in den Schanzen vom Blitz getötet. Sonntags und bei Beerdigungen durften die Kirchenglocken nicht mehr geläutet werden. Gottesdienst in deutscher Sprache war erlaubt. Der Predigt wohnte jedesmal ein französischer Offizier und einige Soldaten bei. Wehe dem Geistlichen, wenn er für deutschen Sieg gebetet hätte.
Zwischen Hangen und Bangen kam der 4. November heran. Der Tag begann, wie gewöhnlich, mit vereinzelten Kanonenschüssen, deren Zahl sich aber bald so stark vermehrte, dass die Erde und die Fenster fortwährend erzitterten. Es waren deutsche Kanonen, die donnerten, und es handelte sich offenbar um die Vorbereitung zu einem großen Gefecht. Ich sah, wie in der Gegend des Barrenkopfes und des Hohrodberges Granaten und Schrapnells platzten. Bald darauf vernahm man auch das Knattern der Maschinengewehre und gleichzeitiges heftiges Infanteriefeuer. Die hin und hersausenden Geschosse verursachten ein Geräusch wie das ferne Brausen des Meeres, und in der Tat brachen sich da oben, in dem felsigen Gelände, die Lebenswellen manches braven Mannes.
Von französischen Soldaten hörte ich, dass ein deutscher Angriff auf den Barrenkopf abgeschlagen worden sei, und dass dabei drei deutsche Offiziere gefallen seien. Die Franzosen sprachen mit Bewunderung von der Tapferkeit dieser Offiziere, die- ihren Truppen voran- zuerst die französischen Schanzgräben erreicht hätten.
Am Tage darauf erhielt ich die Nachricht, dass auch mein einziger Sohn am Gestade des San in Galizien beim Sturm gegen die Russen gefallen sei. Tausende von Kilometern trennen uns von seinem Grabe. Unsre Gedanken aber, die ihn überall hin begleiteten, unser Glaube, unsere Liebe, unsere Hoffnung bauen unsichtbare Brücken durch den Raum, und wir blicken gläubig hinauf zu den hohen Gestirnen, die auch über Galiziens Gefilden leuchten und in ungestörter Harmonie ihre ewige Bahn vollenden.
Beim Begräbnis der Deutschen wurde beobachtet, dass die Gefallenen von den Franzosen bis aufs Hemd entkleidet worden waren. Auf Befragen hieß es, dass die Uniformen und die Stiefel für deutsche Gefangene in Frankreich bestimmt seien. Diese Pietätlosigkeit gegen Tote war nicht dazu angetan, die Sympathie der Elsässer für die Franzosen zu heben. Außerdem war es aufgefallen, dass keine Verwundeten gebracht worden waren, und dass die Alpenjäger deutsches Geld wechseln liesen. Der Fuhrmann, der die deutschen Kleider wegfuhr, durfte sich ein Paar Stiefel als Fuhrlohn aussuchen. In Wirklichkeit waren die Uniformen wohl für französische Spione bestimmt. Im nahen Hotel Altenberg, wo der Stab des 229. französischen Infanterie- Regiments Quartier nehmen sollte, war schon im September von den Franzosen alles ausgeplündert worden, sodaβ dort weder Küchengeschirr, noch Bettzeug mehr vorhanden war. Die Glasschränke der Fremdenzimmer mussten den Franzosen als Wachhäuschen dienen. Als einmal von der Ausplünderung auf Altenberg gesprochen wurde, meinte ein französischer Offizier, dass es bedauerlich sei, dass so etwas bei ihnen habe vorkommen können. Später ankommende französische Soldaten behaupteten natürlich, dass die Verwüstungen von den deutschen Soldaten vollbracht worden sei.
Die Wintermonate schlichen eintönig vorüber. Die militärischen Aktionen beschränkten sich bis zum Februar auf Artillerie-Duelle.
Am 6. Februar wurde folgende Bekanntmachung in deutscher und französischer Sprache angeschlagen:
„Im Falle eines Bombardements durch die deutsche Artillerie haben sich die Einwohner ohne vorherige Aufforderung in die Keller zu begeben. Die Barbaren, die wir vor uns haben, respektieren nichts, weder Wohnungen, noch Zivilpersonen. Diese Aufforderung gilt auch für diejenigen Einwohner, die kein Militär beherbergen.“
Wenn die Franzosen in die Stadt Münster schießen, dann haben sie zur Entschuldigung den Ausspruch: „C’est la guerre!“ zur Hand; wenn aber die Deutschen schießen, dann ist ein solches Vorgehen „barbarisch“.
Im Dorfe herrschte nach der Bekanntmachung große Bestürzung, zumal es verlautete, dass auf dem Kahlenwasen, einem der höchsten Vogesenberge, deutsche Kanonen ständen, von wo aus die Beschießung stattfinden würde. Es hieß, dass 18 Pferde nötig gewesen seien, um ein einziges Geschütz dort hinauf zu bringen. Wegen der Gefährlichkeit der Lage fand vom 7. Februar ab kein Gottesdienst mehr statt.
Am 8. Februar nachmittags bemerkte man wieder einen Flieger über unserer Gegend, der in der Richtung auf Münster zurückflog. Seit acht Tagen war es der dritte deutsche Kundschafter, den wir in der Luft sahen. Wie gerne möchte ich ihm zurufen: „O Vöglein, höre meine Bitt‘, o Vöglein, Vöglein, nimm mich mit!“ Denn unsre Lage wird mit jedem Tage bedenklicher und gefährlicher. Es darf niemand mehr aufs Feld; auch auf der Dorfstraße darf keiner mehr stehen bleiben. Zuwiderhandlungen werden mit 24 Stunden Kellerhaft bestraft. Mancher musste das Wagnis mit genannter Strafe, manchmal in leichter Kleidung, ohne Decke, im kalten Keller büβen, oder er musste schwere Holzscheite im Oberdorf holen und auf der Schulter hinunter zum Wachlokale tragen und zerkleinern.
Am 10. Februar gab es Alarm. Die Soldaten machten sich marschbereit und warteten, wie es schien, auf Befehl. Wir dachten schon, dass sie das Dorf räumen wollten, aber schließlich erfuhr ich, dass General Joffre auf der Schlucht sei und vielleicht auch nach Sulzern kommen würde. Er kam jedoch nicht. Wir stehen nun vollständig unter dem Feuer der deutschen Artillerie. Aber nicht nur wir haben dadurch die Bewegungsfreiheit verloren, sondern auch die Franzosen. Die Soldaten ziehen jetzt nur in dünnen Linien, mit zwei bis drei Schritt Abstand durch die Dorfstraße. Alle Kellertüren müssen offen bleiben, damit die Truppen während der Beschießung hineinflüchten können. Auch die Verproviantierung der Soldaten findet jetzt nur noch nachts statt.
Am 13. Februar mittags hörten einige Bewohner des Unterdorfes die Glocken in Münster läuten. Wir wollten es zuerst nicht glauben. Als aber am Sonntag, den 14. Februar, in Münster nochmals geläutet und am Nachmittage auch Musik gehört wurde, durften wir annehmen, dass drüben ein freudiges Ereignis gefeiert würde, zumal vom „Eichwäldele“ und vom „Eck“ aus zu sehen war, dass die Stadt beflaggt sei. Die Franzosen zerbrachen sich die Köpfe über die Ursache dieser Freudenkundgebung. Erst nach Monaten erfuhren wir, dass die Feierlichkeiten den Siegen in Masuren gegolten hatten.
Es ist Abend geworden. Draußen regnet es und der Wind rüttelt an den Fensterläden. Eine Nachbarin singt ihrem Kinde ein Wiegenlied; aber nur schwach dringen die Laute durch den Sturm zu mir herüber, gerade noch deutlich genug, um es erkennen zu können. Es ist ein altes deutsches Volkslied, das schon vor 1870 im Elsaβ viel gesungen worden ist:
In stiller Kammer ruht das Kind,
Es rauscht der Bach, es braust der Wind!
Die Mutter zu dem Kind sich neigt,
Aus ihrem Aug‘ die Träne steigt.
Im Traum das Kind zur Mutter spricht,
Kommt denn mein Vater immer nicht? -
Sei still, mein Kind, und bet‘ für ihn,
Dein Vater muβ zum Kriege ziehn!
Noch lange saβ ich mit gefalteten Händen in meinem Zimmer und lauschte in die Nacht hinaus, während das Krachen der Granaten sich mit dem Rauschen und Brausen der Natur vermischte. Am anderen Morgen hörte ich, dass auf der Schlucht etwa 60 cm hoher Schnee gefallen sei. Die Gemeinden Sulzern, Stoβweier und Ampfersbach mussten Männer stellen, um die Schluchtstraβe vom Schnee zu befreien.
Am 17. Februar hörte man wieder die Glocken läuten, aber dieses Mal nicht nur in Münster, sondern auch im Groβtal. Manche Bewohner waren von den lange entbehrten heimischen Klängen so ergriffen, dass ihnen die Tränen in den Augen standen. Die Veranlassung des Läutens war der zweite große Sieg über die Russen in Masuren. Am Nachmittag des 18. Februar schwirrten wieder Granaten über Sulzern. Sie galten der Schluchtstraβe, auf der zwei Kompanien der 12. Alpenjäger über die Grenze zogen.
Am 19. Februar um sechs Uhr morgens hörte ich ein fürchterliches Geknatter von Stoβweier herauf; es waren Maschinen- und Infanteriegewehre in fieberhafter Tätigkeit, die mit den doppelzündigen Schrapnells und schweren Granaten einen gräβlichen Höllenlärm verursachten. Die Erde wankte und die Fenster klirrten fortwährend. Von einem Telephonisten erfuhr ich, dass die Deutschen einen Graben auf dem Sattel genommen hätten. Das Gefecht dehnte sich bald auf der ganzen Linie aus. Ich sah die Schrapnells über dem Ameisenköpfle und dem Hörnleskopf platzen. Auf den Rücken dieser Höhen gingen schwere Granaten nieder, so dass man hätte meinen können, diese 900-1000 Meter hohen Berggipfel wären plötzlich zu Vulkanen geworden. Mehrere verwundete Alpenjäger kamen mit verbundenen Köpfen mühsam aus der Gefechtslinie zurück, und es musste schnell ein Lokal zu ihrer Lagerung hergerichtet werden. Ich hörte, dass die Deutschen auch am Hohrodberg um 11 Uhr vormittags eine Schanze genommen hätten. Als ich zufälligerweise nach dem Hohroder Eichwald hinaufschaute, sah ich die Franzosen ins Gebüsch zurück weichen, aber auch hier schlug Granate auf Granate unter sie ein, und einmal kam es mir vor, als flögen zwei menschliche Körper mit ausgebreiteten Armen in die Luft.
Die Soldaten rannten, Deckung suchend, von Fels zu Fels, von Böschung zu Böschung, um dem Verderben zu entrinnen.
Im Fabrikhofe rüsteten sich die Franzosen zum Rückzug. Alles wurde gepackt und aufgeladen. Für den Verwundeten-Transport waren jedoch keine Ambulanzwagen vorhanden, und auch nicht genügend Träger da. In Eile wurden der Schulsaal in der oberen Schule und das Spritzenhaus für die Verwundeten bestimmt und dem Bürgermeister für den Fall des Rückzugs die Sorge für die Verwundeten empfohlen. Die Einwohner mussten schnell Matratzen und Decken dafür hergeben. Der „médecin-major“ (Anm.: Oberstabsarzt), der bei mir wohnte, lieβ einige Matratzen in sein Zimmer und auf die vorgebaute Veranda legen. Um fünf Uhr abends wurden die ersten Verwundeten gebracht, darunter die beiden Alpenjäger, die tatsächlich in die Luft geflogen waren. Der eine hatte beide Arme weg, Gesicht und Hände waren geschwollen und verbunden. Dem anderen waren beide Beine zerschmettert und die Hände zerschunden. Beide starben noch in der Nacht. In Eile wurden alle noch vorhandenen Fuhrwerke, Leiterwagen, Esel- und Ochsenkarren requiriert, um die Verwundeten in der Nacht nach der Schlucht zu schaffen.
Noch oft höre ich in schlaflosen Nächten das Wimmern der in stockfinsterer Nacht auf die ungeeigneten Karren Aufgeladenen und wälze mich dann auf meinem Lager hin und her, als wäre ich selbst ein schwer verwundeter Mann. Von den heimkehrenden Fuhrleuten erfuhr ich, dass auf der Schluchtstraβe viele tote Franzosen gelegen hätten, die sie auf die Seite hätten legen müssen, um weiterfahren zu können. Es waren Verwundete, die von Ampfersbach heraufgekommen waren und dann mangels Hilfe an Erschöpfung oder an Verblutung in der eiskalten Nacht hatten zu Grunde gehen müssen.
Am 20. Februar fing die Kanonade um 6 Uhr morgens wieder an. Im Osten, in der Gegend von Hohrodberg und des Barrenkopfes platzten französische Geschosse kleineren Kalibers in so großer Zahl, dass sie eine ganze Wolkenschicht sogenannter Schäfchen bildeten, die von der aufgehenden Sonne rosenrot gefärbt wurden. Das war ein Morgenrot, das mancher brave Soldat heute zum ersten und letzten Mal sehen sollte. Gegen 4 Uhr kamen verwundete Alpenjäger an meiner Wohnung vorbei, sie waren vollständig erschöpft. Der eine war blutüberströmt und hatte außerdem eine Wunde am Fuße, sodaβ das Blut bei jedem Schritt hervorquoll. Vor dem Fabriktor setzte er sich auf einen Eckstein, um auszuruhen. Er sagte mir, dass er seit dem frühen Morgen verwundet sei und bis jetzt (4 Uhr nachmittags) gebraucht habe, um herunterzukommen. „Mes camarades, mes camarades“ jammerte er immerfort, sie seien alle gefallen dort oben.
Von einem französischen Sergeanten hörte ich, dass es schrecklich hergegangen sei. Es wären etwa 2000 Mann von ihnen dort oben gefallen. Dabei zeigte er nach dem Barrenkopf und Hohrodberg. Er verstand etwas deutsch und erzählte, dass er im vordersten Graben gewesen sei, als der deutsche Sturmangriff erfolgte, und er hätte das deutsche Kommando „Maschinengewehre vor“ ganz deutlich vernommen. Darauf sei ein Hagel von Kugeln gekommen, der furchtbar unter ihnen aufgeräumte habe.
Abends gegen sieben Uhr wurden auf Anordnung des Bürgermeisters die beiden Toten zur Bestattung geholt. Ich nahm ihnen die Erkennungsmarken und Papiere ab und übergab sie dem Bureau des Kommandanten, sonst wären diese Männer – wie so viele – ohne Feststellung ihrer Namen begraben worden. Vom Spritzenhaus kamen noch fünf weitere Tote dazu, denen die Erkennungsmarken nicht abgenommen waren. Der Sanitäter, dem dort die Pflege übertragen war, sagte mir auf Befragen, dass die Abnahme der Erkennungsmarken nicht seine Sache sei.
Der Kampf dauerte auch in der Nacht fort, und der Morgen des 21. Februar bietet dasselbe Schauspiel wie der vorhergehende Tag. Es kommen immer mehr Soldaten herunter, die vor Erschöpfung nicht mehr mitmachen können, da sie schon vier Tage und vier Nächte ununterbrochen im Kampfe stehen. Im Fabrikhofe stehen etwa zwölf solcher Leute. Ein Korporal lässt sie Gewehr auf und ab machen; aber es geht sehr schlecht, sie scheinen vor Schlaf nicht mehr recht bei Sinnen zu sein. Ein Kapitän hält ihnen eine Strafpredigt und droht ihnen mit dem Kriegsgericht, wenn sie noch einmal Munition wegwerfen und fortlaufen würden. Alsdann befahl er ihnen, im Fabrikmagazin auszuruhen. Ich hörte bei dieser Gelegenheit, dass Stoβweier am Nachmittag von den Bayern gestürmt worden sei, und dass man das gleiche Schicksal für Sulzern befürchte.
Am 22. Februar gegen sieben Uhr morgens begann das Kanonenkonzert aufs neue mit erhöhter Heftigkeit. Ich zählte über 30 Kanonenschüsse in der Minute und dazwischen vernahm man deutlich das Knattern des Gewehrfeuers und der Maschinengewehre. Die Kugeln flogen bis nach Sulzern herauf, wo sie auf die Dächer niederprasselten. Gegen sieben Uhr abends hörte ich heftiges Infanterie- und Maschinengewehrfeuer von Stoβweier herauf, dazwischen Trompetensignale und Hurrarufe. Die Bayern stürmten den westlichen Teil von Stoβweier, „Kilbel" genannt. Ich lege mich angekleidet aufs Bett, denn jeden Augenblick kommt ein Soldat, um nach dem Chefarzt (médecin-major) zu fragen, der bei mir wohnt, aber nirgends zu finden ist. Mit dem Ausruf „Mon dieu, mon dieu“ geht erweiter. Verwundete Kameraden warten auf Hilfe!
Auch am 23. Februar tobt der Kampf weiter. Das deutsche Geschützfeuer ist heute noch stärker als gestern, besonders unser Ort scheint, nachdem Stoβweier gestern vollends eingenommen worden ist, jetzt der Zielpunkt der Kanonen zu sein. Im Dorfe brennt es an mehreren Stellen, und das Feuer greift auch auf die elektrische Lichtanlage über, die uns bisher die Beleuchtung lieferte. Dank dem Eingreifen des Pförtners konnte die Anlage gerettet werden; der Hauptantriebriemen war jedoch bereits durchgebrannt, sodaβ der Betrieb nun stillstehen musste. Die weitere Löscharbeit musste er unterlassen, da ihm die Soldaten mit Erschieβen drohten, wenn er damit fortführe. Nachträglich vernahm ich von Leuten, die es gesehen haben, dass die Franzosen die Anwesen angezündet hätten.
Unterhalb des Barrenkopfes steht ein Maschinengewehr und im Brochenkopf scheint eine Höhle zur Bergung von Munition und Soldaten eingerichtet zu sein, was deutscherseits jedenfalls bemerkt worden ist, denn hier krachten Schrapnells und schwere Granaten in großer Zahl. Die Soldaten sind plötzlich wie vom Erdboden verschwunden und das Maschinengewehr schweigt.
Am Nachmittag wird es ruhiger. Unterhalb des Sandbrochenkopfes, dort wo wahrscheinlich das Maschinengewehr stand, sehe ich einige Soldaten die Stücke zusammenscharren. Es sind jetzt keine Wachen mehr am Fabriktor, die den führerlosen Soldaten Bescheid geben können. Die ganze Nacht kommen Verwundete, die nach dem médicin-major fragen, der immer noch nicht zu finden ist. Wenn eine Truppe nicht mehr für ihre eigenen Verwundeten sorgen kann, wie mag es dann den verwundeten Deutschen drüben ergehen! „C’est la guerre?“ – Nein: das ist Barbarei!
Über Mittag ist es ziemlich ruhig, nur einige Flintenschüsse und der heisere Schrei der auf der Butzenmatt kreisenden Raben unterbrechen die unheimliche Stille. Es liegt ein Hauch von Verwesung in der Luft, der diese Vögel anzieht. Auf der Dorfstraße die Häuser entlang schleichen Alpenjäger einzeln, in Abständen von 20 bis 30 Meter, zu ihren Küchen, von wo sie nach erhaltener Verpflegung gleich wieder in die Schanzen zurückkehren.
Dann müssen die Franzosen fliehen. Sie schießen alles in Brand. In Stoβweier können es die Einwohner nicht mehr aushalten, sie verlassen um 5 Uhr morgens ihren Ort, wo nun all ihre Habe von den Franzosen zu Grunde gerichtet wird. Auf der Schluchtstraβe scheinen große Schneemassen gefallen zu sein, die die Verproviantierung der Truppen erschweren. Jedenfalls höre ich einige Soldaten nach Brot fragen, das nicht mehr vorhanden zu sein scheint. Weiter ist mir klar: die Franzosen haben ihre Stellungen verloren und fürchten einen deutschen Sturmangriff.
Auf alle Fälle packe ich schnell einige Kleider und Wertsachen, stelle mir einen alten Schubkarren bereit, um nötigenfalls gleich flüchten zu können. Am andern Tag war jedoch der Schubkarren verschwunden. In der Nacht hatten die Alpenjäger auch die Ziertannen hinter meiner Wohnung abgehauen und damit einen gegenüberliegenden Durchgang maskiert, damit sie nicht bemerkt werden, wenn sie aus- und eingehen.
Wir sind jetzt in der Luftlinie kaum 300 Meter von den deutschen Vorposten entfernt. Aus ihren höher gelegenen Stellungen können sie alles sehen, was im Tale vorgeht. Auf den Katzenstein-Allmenden und dem Hohroder Eichwald sowie im „Gebräch“ unterhalb des Barrenkopfes, wo gestern noch deutsche Geschosse die Franzosen verdrängt haben, krachen jetzt französische Granaten und suchen das deutsche Vordringen zu verhindern. Um Mitternacht fahren einige Proviantwagen in den Hof. Alpenjäger mit Handkarren decken ihren Bedarf. Der Kampf scheint nun ausgetobt zu haben, und die Deutschen benutzen die scheinbare Ruhe der Nacht, um ihre neuen Stellungen mit Gräben und Drahtverhauen zu versehen.
Immer enger zieht sich der deutsche Ring um Sulzern. Aber zähe verteidigen die Franzosen ihre Stellungen. Das muss man ihnen lassen. Das Gebirge bietet ihnen stets neue Verteidigungsstellen. Lange werden sie dem deutschen Ansturm nicht mehr widerstehen können; das glauben auch die Alpenjäger. Bei jedem deutschen Angriff wird alles gepackt und zum Rückzug vorbereitet. Das stimmt die Truppen wenig zuversichtlich. Sie schauen beim Aufladen nach dem Hohroder Eichwald hinauf, als fürchteten sie von dort eine Gefahr. Aber sie wissen, die Deutschen schießen nicht auf das „Rote Kreuz“. Dieser Umstand wird hier ausgenützt oder richtiger miβbraucht.
Im Keller habe ich mir eine Matratze mit Decken zurecht gemacht, um hier die Nächte verbringen zu können. An ein Schlafen ist aber nicht zu denken, denn draußen donnern die Kanonen fort, und im Keller stören mich die hin- und herhuschenden Ratten und Mäuse.
Es mochte ungefähr 3 Uhr nachts sein, als ich heftiges Infanteriefeuer vernahm. Gleich darauf drangen Trommeln, Trompetentöne und Hurrarufe an mein Ohr. Jetzt kommen sie, dachte ich, sprang auf und stellte das vorbereitete Gepäck zurecht, um sogleich flüchten zu können wenn der Dorfausgang frei würde. Aber sie kamen nicht. Langsam wurde es stiller. Ich koche, speise und schlafe im Keller, denn oben ist es jetzt doch zu lebensgefährlich geworden. Nur unser alter Pförtner bleibt oben im Pförtnerhause ruhig vor der aufgeschlagenen Bibel sitzen. Lautlos fallen die Schneeflocken nieder. Es sind die Tränen der Mütter, Witwen und Waisen, die sich zu einer etwa 10 cm hohen Schicht verdichten, um die Toten da draußen am Pfarrgarten wie mit einem weißen Leichentuch zuzudecken.
Um 10 Uhr fängt wieder die Beschießung an. Unsere Fabrik kommt, wie immer, zuerst an die Reihe. Der Friedhof von Sulzern liegt jetzt mitten in der Schuβlinie. Der Landwirt Schmidt–Magey, der durch einen Granatsplitter verwundet wurde und an dieser Verletzung starb, musste im Garten seiner Schwester begraben werden. Es war eine sternenklare Nacht, wie ich sie schon lange nicht mehr gesehen hatte. Es schien, als seien die Sterne der Erde näher gerückt oder als sei unser Ort dem Himmel näher gekommen. Aber meine Gedanken halten nicht lange stand vor dem geheimnisvollen Sternenhimmel. Herunter zur Erde den Blick! Zuerst sterben, nachher wird alles offenbar werden. Glaube nur! O käme ein Engel, mir zu erzählen! Wir waren heute in großer Not und Gefahr, sodaβ wir sehr nahe an den Himmel gekommen waren. Wäre ich beim Einschlagen der Granaten oben in meiner Wohnung gewesen, ich läge jetzt unter den Trümmern begraben…….
Wir haben nun schon den 5. März und noch immer dauert der Kampf an. Von dem, was draußen vorgeht, wissen wir garnichts. Es darf niemand zum Dorf herein oder hinaus. Zeitungen sind schon lange nicht mehr nach Sulzern gekommen. Das Vieh in den auβerhalb liegenden Ställen und Scheunen geht entweder zu Grunde oder es wird in der Nacht von den Franzosen weggetrieben. In der Wohnung des Herrenhauses sieht es jetzt traurig aus. Alle brauchbaren Sachen, wie Bettstellen, Springfedermatratzen, Tische und Stühle sind verschwunden; die Schränke, Schreibtische und Sekretäre erbrochen. Ihr Inhalt liegt teilweise zerstreut und zertreten in den Zimmern herum. Die Photographie-Rahmen sind ebenfalls verschwunden, während die Bilder auf dem Boden liegen. Auch der Wäscheschrank ist vollständig ausgeräumt. Ein französischer Artillerie-Posten sah von seiner Stellung am gegenüberliegenden Berge nachts Lichter im Herrenhause blinken. In der Meinung, dass hier die Deutschen Zeichen geben würden, wurden zwei Mann in Begleitung eines Sergeanten ausgeschickt, um nachzusehen. Sie überraschten einige Alpenjäger mit elektrischen Taschenlampen beim Plündern. Mit den Herrenkleidern trieben die Leute allerlei Unfug. Mit Zylinderhut und Strohhut auf dem Kopf statteten sie ihrem Quartier Besuche ab. Später sah ich, dass der Zylinderhut und die dazu gehörende Schachtel in der Küche als Nachtgeschirre Verwendung gefunden hatten.
Am 11. März 1915 gegen 4 Uhr nachmittags kam ein Auto mit einem Gendarmerie-Kommandanten von Remiremont über den Schluchtpaβ ins Dorf gefahren. Der Herr Bürgermeister wurde gerufen und ihm eröffnet, dass bis abends 8 Uhr sämtliche Einwohner von Sulzern mit ihrem Vieh und ihrem Handgepäck versehen zum Zwecke der Überführung nach Frankreich auf der Neubruck versammelt sein müssen. Der Bürgermeister protestierte gegen die ungeheuerliche Zumutung, das Dorf in 4 Stunden zu räumen, da ihm dies unmöglich erscheine. Nichts destoweniger musste er den Befehl bekannt geben. Wie ein Lauffeuer durcheilte die Schreckenskunde das Dorf. Bald standen die Frauen und Kinder auf der Straße und weinten bitterlich. Die Männer weigerten sich, die Heimat zu verlassen. Es half ihnen aber nichts, sie mussten sich in das Unabänderliche fügen, wenn sie nicht mit Gewalt von ihrer Scholle entfernt werden wollten. In diesem Falle hätten sie weder Vieh noch Handgepäck mitnehmen dürfen. Der Bürgermeister, der Herr Pfarrer und einige Gemeinderatsmitglieder begaben sich zusammen auf die Kommandantur, um gegen die sofortige Räumung des Dorfes Einspruch zu erheben; der Erfolg war die Vereinbarung, dass vorerst die zugezogenen Flüchtlinge aus Oberhütten und Hohrodberg, die Unbemittelten und die Freiwilligen ausziehen sollen.
Um 8 Uhr abends versammelten sich 136 Personen auf der Neubruck. Sie waren alle schwarz gekleidet, und die meisten weinten, als gingen sie zum Begräbnis eines lieben Verstorbenen. Es fanden jedoch nur 94 Personen auf den bereitgestellten Wagen Platz, sodass 42 wieder umkehren mussten. Die Besitzer mussten das Vieh zu Fuß über den Schluchtpaβ nach Gerardmer treiben. Das war ein schwieriges Stück Arbeit: in stockfinsterer Nacht, auf einer 26 Kilometer langen Straße, auf der der Wagenverkehr nachts am lebhaftesten war. Manches Stück Vieh ging auf dieser Reise verloren.
Als die zurückgebliebenen 42 Personen wieder in ihre Wohnungen kamen, waren dieselben von den Alpenjägern während ihrer kurzen Abwesenheit nahezu ausgeräumt. Der Bürgermeister beschwerte sich beim Kommandanten, der ihm erwiderte, dass solches auch auf deutscher Seite gemacht würde. Alles, was im Dorfe übrig bleibe, sei zur Verfügung der Truppen. Es gab also keinen Zweifel mehr: das Schicksal von Sulzern war besiegelt! Das Dorf war, wie so viele andere Dörfer vor ihm, der vollständigen Verwüstung preisgegeben. Die Einwohner von Sulzern führen auch einen heiβen Kampf: den Kampf um ihre Heimat! Heimat, Heimat über alles, über alles in der Welt!
Am 24. März 1915 um die Mittagszeit schlug eine Granate in die Stallung und Scheune des Landwirts Martin Rohner, und bald vernahmen meine überspannten Gehörnerven das unheimliche Prasseln der Flammen. Ich eilte hinaus auf die Straße, wo mir Kühe und Kälber herrenlos und blökend entgegenkamen. Im Straßengraben lag ein schönes Stück Jungvieh mit einer klaffenden Halswunde in den letzten Zuckungen, während nebenan auf der Matte eine zweite Kuh vor Schmerzen brüllte. Die Hydranten und Schläuche waren schon an der Wasserleitung angeschraubt, aber niemand hatte den Mut, dabei zu bleiben. Aus dem Hause des Ölmüllers Graff kamen Frauen mit entsetzten Gesichtern und rangen die Hände: drei Nachbarn waren von Granatsplittern zerrissen worden. Sulzern war für Bürger und Soldaten ein Ort des Schreckens geworden.
Gegen 5 Uhr abends gerieten wir noch einmal in große Lebensgefahr: wir hörten irgendwo schwere Geschosse einschlagen, die das Haus bis in den Grund erschütterten. Schnell flüchteten wir unter den festen, mit massivem Sandstein überdeckten Kellereingang, als im selben Augenblick eine Granate durch das zerstörte Fenster meiner Wohnung flog, den Fußboden des Zimmers durchschlug und in den Keller drang, die Räume mit bläulich-weißem Pulverdampf erfüllend. Gleich darauf sausten mindestens noch ein Dutzend solcher Geschosse auf unser Anwesen nieder. Es verging eine gute Weile, bis das rasende Pochen unserer Herzen nachließ und wir wieder sprechen konnten. Oben im Zimmer sah es böse aus: der Tisch in der Mitte war gänzlich vernichtet. Da wo er gestanden hatte, befand sich jetzt ein großes Loch im Fußboden. Das Linoleum hing teilweise an der Decke. Der Ofen war zusammen gebrochen, die Ofenröhre wie ein Sieb durchlöchert. Spiegel und Bilder lagen zerschmettert umher, nur das ganz in Glas gerahmte Bild „Der hinkende Petrus“ hing noch unversehrt in der Fensternische. Das tröstete mich und ich dachte: nur das Materielle ist dem Verderben geweiht, das Ideelle aber bleibt in Ewigkeit. Auf die Erhaltung des heimatlichen Herdes hofft jetzt niemand mehr. Täglich wird ein Stück davon in Asche verwandelt. Die Brände werden nicht mehr gelöscht.
Am 19. April erhielt auch ich Befehl zum Auszug. Um 7 Uhr abends bekam ich den Befehl, um 10 Uhr nachts am Versammlungsplatz zu sein. In Eile nagelte ich die bereits gepackten Kisten zu und lief noch einmal durch das halb zerstörte Haus, da und dort ein liebes Andenken zusammenraffend, das ich in die noch offen stehenden Koffer barg. Dann wurden auch diese verschlossen und gebunden. Alles andere musste zurückgelassen werden. Was wir ein Menschenalter hindurch gespart und geschafft hatten, war der Vernichtung hilflos preisgegeben. Um 9 Uhr kam der Wagen zur Abholung des Gepäcks, begleitet von einem Sergeanten des Alpenjäger-Bataillons. Der protestierte gleich gegen mein vieles Gepäck. Ich erwiderte, dass ich für zwei flüchten müsse, für meinen abwesenden Herrn und für mich. Das leuchtete dem Manne ein, aber für seine Zustimmung erbat er sich eine Matratze, die er gleich mit auflud, da er, wie er sich äußerte, von heute ab ein anderes Quartier beziehe. Auf dem Wege nach dem Versammlungsplatz griff ich zufällig in die Brusttasche meines Rockes und fühlte mit jähem Schreck, dass ich meine Geldtasche beim Kleiderwechsel hatte liegen lassen. Während ich zurücklief, begegnete mir der Bursche eines Offiziers, der mich zurückholen sollte. Meine Wohnung war von einem französischen Offizier mit Beschlag belegt worden, der meine Geldtasche auf dem Bett gefunden hatte und sie mir wieder zurückerstattete. Dankbar reichte ich ihm die Hand und versöhnter schied ich diesmal von meinem Heim.
Als ich am Versammlungsplatz ankam, wurde gerade aufgeladen. Als wir, etwa 10 Personen, aber in den letzten Wagen steigen wollten, kam die Order, dass der Wagen für zwei verwundete Alpenjäger bereit gehalten werden müsste. Zurück durften wir nicht mehr. Unter Begleitung eines Gendarmen mussten wir den 13 Kilometer langen Weg zur Schlucht zu Fuß antreten. Mein etwa 50 Pfund schweres Handgepäck, das ich zu mir in den Wagen nehmen wollte, mochte ich, da es das Kassenbuch und das Portefeuille der Fabrik enthielt, nicht zurücklassen. So entschloß ich mich, es zu tragen.
Es war eine lauwarme Aprilnacht. Am Himmel hing schweres Gewölk, und die Nacht wäre stockfinster gewesen, wenn nicht die deutschen Leuchtkugeln sie von Minute zu Minute taghell erleuchtet hätten. Mein Gepäck wurde mit jedem Schritt schwerer. Der Gendarm, den ich um Besorgung eines Wagens oder um anderweitige Hilfe bat, schnauzte mich mit der Bemerkung ab, dass ich das Gepäck liegen lassen solle, ich hätte ja gewußt, dass man nichts mitnehmen durfte. Von diesem Manne war also kein Erbarmen zu erwarten. Deshalb trug ich schweigend mit großer Anstrengung meine Last weiter. Bald, das fühlte ich, würden meine Kräfte zu Ende gehen. Als wir ungefähr die Hälfte des Weges zurückgelegt hatten, wurde unser Begleiter durch einen von der Schlucht kommenden Gendarmen abgelöst. Dieser erlaubte uns auszuruhen. Es war mitten im Biesteiner Walde, in finsterer Nacht. Der Schein der Leuchtkugeln drang nicht in diesen dichten Tannenwald.
Als wir wieder aufbrachen, fühlte ich meine Müdigkeit noch stärker als vorher. Meine rechte Schulter schmerzte von der ungewohnten Last. Eine trockene Hitze stieg mir in den Kopf, die Schläfen hämmerten, und die Beine befiel ein Zittern. Ich fühlte, dass ich zusammenbrechen würde, wenn ich noch einen Schritt weiter ginge. So ließ ich mich denn am Wegrande niedergleiten und erklärte dem Gendarmen, dass ich vor Erschöpfung nicht mehr weiter könne. Er war damit einverstanden, dass ich ausruhen solle. Nachher, meinte er, würde es wieder gehen. So saßen wir da, in finsterer Nacht, heimatlos, mitten im Walde der Heimat. Mit meiner Kraft war es zu Ende. Wenn keine Hilfe kam, so würde ich den größeren Handkoffer mit der Fabrikkasse zurücklassen müssen. Meine Sinne waren geschärft, wie diejenigen eines Sterbenden, und so vernahm ich trotz des Infanteriefeuers als erster das Herannahen eines Wagens. Ich machte den Gendarmen darauf aufmerksam und bat ihn, den Wagen für uns zu requirieren. Er zeigte aber keine große Lust dazu und hätte auch nichts getan, wenn ich nicht aufgestanden wäre und den Fuhrmann, einen Alpenjäger, angehalten hätte. Ich sagte ihm, dass wir Flüchtlinge von Sulzern seien und vor Erschöpfung nicht mehr weiter könnten. Er meinte aber: „nous ne chargeons pas de Boches.“ („Wir verladen keine Boches.“) Auf meine Erwiderung, dass wir ja französisch sprächen, meinte er, die Boches sprächen alle französisch. Endlich legte sich auch der Gendarm ins Mittel, und wir durften aufsteigen. Mein Handkoffer war gerettet.
Als wir endlich gegen 4 Uhr morgens den Schluchtpaß erreichten, war ich vollständig kalt und steif. Aus einer Gießkanne und mit einem einzigen Trinkglase wurden wir in einer kalten Bretterhütte mit warmem Tee bewirtet. Bis 9 Uhr morgens mussten wir auf den nach Gerardmer abgehenden Zug warten. Das Resultat dieser nächtlichen Fahrt war für mich eine starke Erkältung, an deren Folgen ich noch heute leide. Aber ich verdanke ihr die Erlaubnis zur Heimkehr in mein geliebtes Heimatland."