Aus dem Tagebuch des Ersatzreservisten Jakob Hollmann. Vom Ersatzbataillon ins Feld zum Landwehr-Infanterie-Regiment 111.
"Wir sind in Pfirt und melden uns beim Regimentsstab. Nach kurzer Zeit heißt es: „Kaffee-Empfang“. „Der Krieg fängt gut an,“ denke ich.
Mit einem Kameraden komme ich ins Quartier zu armen Leuten. Wir haben ein gutes, breites Franzosenbett. Die Frau ist sehr verschüchtert. Dem Kind gebe ich eine Tafel Schokolade. Die Frau wird nun gesprächig und erzählt, dass ihr Mann in Russland im Felde stehe und sie sich sehr um ihn ängstige. Ja, ich erfahre noch mehr. Ihr Bruder sei gleich am ersten Tag hinüber auf die andere Seite. Jetzt sei ihr Mann bei den „Dütschen“ und ihr Bruder bei den Franzosen. Es fiel mir sofort auf, dass sie von den „Dütschen“ sprach. Sie sagte nicht, „bei den Unserigen“. Man merkte, die Frau betrachtete sich als dazwischenstehend. Sie hielt weder zu den einen, noch zu den anderen. So war sie auch in ihrem Innern zerrissen. Fällt ihr Mann, so stirbt er für die „Dütschen“, fällt ihr Bruder, so stirbt er für die anderen.
„Was wird mit meinem Bruder geschehen, wenn der Krieg aus ist und er zurückkommt?“
„Der wird sofort erschossen.“
Da heult die Frau. Der kleine Halbfranzosenfratz macht ein Gesicht, als wolle er mir die Schokolade ins Gesicht schleudern. Die Frau tat mir leid und ich sagte verbessernd: „Ihr Bruder kommt natürlich nicht mehr zurück, sondern bleibt drüben.“
Am anderen Morgen.
„Antreten!“ Der Regiments-Kommandeur besichtigt uns. Ich werde dem II. Bataillon zugeteilt. Die Ordonnanz steht schon bereit, um uns in Stellung zu bringen. Es geht über Köstlach, Mörnach nach Moos. Der Tornister drückt, wir lassen uns aber nichts merken. Ich versuche, mit dem Führer in ein Gespräch zu kommen. Er tut so überlegen, so kriegserfahren, dass ich mich über den Kerl ärgern muss und Witze mache. „Nun kann die Schlacht beginnen, der Ersatzreservist Hollmann ist da.“
„Dir werden die Witze noch vergehen,“ meinte der Krieger vom Bataillonsstab.
„Mensch, tu nicht so, als wenn Du den Krieg alleine zu führen hättest! Bist Du auch vorne so, oder tust Du nur uns gegenüber so wichtig?“
Damit war die Feindschaft zwischen uns beiden erklärt und tatsächlich, ich habe ihn richtig eingeschätzt. Wir passierten eine Batterie.
Die Artilleristen schleppten Granaten in Körben herbei. Die Mannschaft hat schwere Arbeit. Ein Feldhilfsarzt kommt aus seinem Unterstand und photographiert uns. „Dem seine Stellung möcht ich halten,“ meint Nachbar Peter, ein dicker, humorvoller Hofbauer aus dem hinteren Elztal. Er schleppt seinen Affen und fährt sich dauernd mit dem roten Taschentuch übers Gesicht. Ich schwitze genau so, trockne mich aber nicht ab. Wozu auch? Das Schwitzen lässt nicht nach, außerdem wird das Taschentuch nass. Mit Wäsche sind wir karg bestellt: 2 Hemden, 2 Taschentücher, 1 Unterhose, 1 Paar Schnürschuhe, dazu das Gewehr von beträchtlichem Gewicht und 250 Patronen. Kurz, so etwa 60 Pfund schleppen wir. Wir schwitzen, wir dampfen. „Oha,“ sagt Peter und wischt sich übers Gesicht, „ich komme mir schon recht abgekämpft vor.“
Endlich sind wir beim Bataillonsunterstand in Moos angelangt. Die blöde Ordonnanz verschwindet. Wir treten an.
„Stillgestanden! Richt Euch! Die Augen – links!“ Der Unteroffizier macht Meldung. Der Bataillons-Kommandeur besichtigt uns. Ich komme in die 6. Kompagnie. Eine Kompagnieordonnanz der Sechsten ist schon da, ein gesprächiger Gefreiter. Er führt uns weiter den Wald hinauf und wieder etwas abwärts ins Largtal. Das Bataillon liegt rechts von der Pfetterhauser Strasse. Die 6. Kompagnie am rechten Flügel. Der Hauptmann empfängt uns. Er spricht in ruhigem Ton und macht einen sympathischen Eindruck. Ich habe unterwegs die Ordonnanz ausgefragt. Er ist Oberförster. „’s isch en Gute!“ Die meisten Soldaten und Unteroffiziere sehen bärtig aus.
Es stehen viele um uns „Neue“ herum.
„’s sind Grüne da!“ schreit einer.
„’s sind Rekruten eingetroffen,“ höre ich einen anderen. Donnerwetter! Grüne! Rekruten! Da gelten wir also nichts. Die halten uns gewiss für minderwertig. Und wir glauben: wir seien Vollsoldaten, bester Ersatz! Waren wir doch Männer im Alter von 30–34 Jahren, vollausgebildet. Grüne! Da können wir etwas erleben.
Heute bin ich dienstfrei. Im Unterstand einer Holzbaracke angekommen, wird das Gewehr beiseite gestellt und der Affen abgelegt.
Man mustert mich.
„’s isch ein Papierne,“ meint einer menschenkundig.
„Was bisch denn?“
„Soldat!“
„Schreiber biste, Schullehrer oder im besten Fall Kofmich.“
Kaufmann soll das heißen.
„Essen holen!“ rief einer draußen.
Im Augenblick hatte man mir zu dem meinigen noch fünf andere Kochgeschirre in die Hand gedrückt und nun wusste ich’s, sie markieren die alte Mannschaft und betrachten mich als den zu erziehenden Rekruten. Doch ich griff zu und schleppte das Essen. Die Küche stand hinten in Moos. Es gab Erbswurst mit Speck, ganz hervorragend. Also auch hier fängt der Krieg an mit dem Kommando: Essen holen!
Der Küchenoffizier ist groß und mager. Er schreit und schikaniert die Leute nicht. Er gefällt mir.
„So, Du bist einer vom neuen Ersatz,“ sagte er. Da hatte er’s bei mir erst recht heraus. „Ersatz“ hat er gesagt und nicht Rekrut. Ich drücke ihm zwei Zigarren in die Hand, und die Freundschaft zwischen uns war und blieb geschlossen.
Ich schleppe meine Last nach vornen. Beim Essen, da will der Kriegsmann nicht gestört sein. Das ist eine wichtige Sache. In der Hütte hört man nur das Klappern des eisernen, umlegbaren Gabellöffels im Blechgeschirr. Die schmutzigen Kochgeschirre werden der Reihe nach vor die Türe gestellt. Es ist ganz selbstverständlich, der „Rekrut“ hat sie zu putzen. Ich greife zu und nach einer halben Stunde hat jeder sein sauberes Geschirr.
Gegen 10 Uhr nachts hauen sich die wachfreien Mannschaften aufs Drahtnetz, gefechtsbereit, umgeschnallt, Mantel angezogen, ebenso die Stiefel. Nur eine Decke. Sie legen sich hin, machen die Augen zu und schnarchen. Wie die Heringe liegen sie eng nebeneinander, alle auf der rechten Seite. Jeder hat Anspruch auf 50 Zentimeter Platz. Da kann sich keiner auf den Rücken legen, er hätte zuviel Platz beansprucht. Keiner darf sich umdrehen, sonst wacht der Nebenmann auf und schimpft.
Ich lege mich nicht. In dieser kleinen Bude zu schlafen ist so eine Sache. Auf dem Tisch ein stinkendes Karbidlicht, ein winziges Fenster ist geschlossen und abgeblendet. Die Türe ist ebenfalls zu. Der Wachhabende raucht aus einer Pfeife einen fürchterlichen Tabak. Die Luft ist zum Schneiden. Doch die Landser schlafen und schnarchen. Wann werde ich mich an diese Zustände gewöhnt haben?
Nachts zwölf Uhr. Die Wache wechselt. Die Männer werden vom Wachhabenden etwas unsanft gestoßen. Sie reiben sich die Augen, nehmen’s Gewehr und ziehen ab auf Posten zur Ablösung.
Nun ist Platz. Ich mich in eine Ecke. Dort will keiner liegen; denn es zieht zu allen Ritzen und Fugen der Bretterwand herein. In der Mitte ist es wohl unangenehmer, aber wärmer. Die Ablösung kommt. Die Männer stellen das Gewehr an die Pritsche, kriechen auf den Draht, wickeln sich in die Decke und schnarchen.
Herrgott, sind das Kerle. Wenn ich nur auch schon so weit wäre. Drei Wochen ging es, bis ich zum erstenmal in einen schlafähnlichen Dämmerzustand geriet. Erst nach 6 Wochen war ich soweit, dass ich mich wie die andern umlegen und schlafen konnte. Es war furchtbar, bis ich mich eingewöhnt hatte. Sagen durfte ich nichts, erst recht nicht klagen. Und mager wurde ich, unglaublich mager.
Das Essen war reichlich und gut, aber sechs Wochen ohne richtigen Schlaf; das ist zum Verrücktwerden. Und doch fühlte ich mich trotz allem gesundheitlich recht wohl. Der Mensch kann doch allerhand ertragen, wenn er muss."
Damals in Moos